Alphabetisierung und Grundbildung als Weg zu Erfolg und Teilhabe

Autoren: Christine Born-Edenhofer und Knut Becker, Fachstelle Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg

Fahrkartenautomaten, Bedienungsanleitungen, Beipackzettel – ohne ausreichende Lese- und Schreibkenntnisse wird der Alltag kompliziert. Lesen und Schreiben ist eine wichtige Voraussetzung, um an allen gesellschaftlichen Bereichen teilzuhaben und sich im Beruf zu qualifizieren oder Weiterzubilden. Die Fachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung beim vhs-Verband Baden-Württemberg koordiniert seit Februar 2016 die Grundbildungs- und Alphabetisierungsarbeit im Land.


Rahmen und Ziele

Die Fachstelle arbeitet im Projekt „Alphabetisierung und Grundbildung als Weg zu Erfolg und Teilhabe in Beruf und Gesellschaft“ des Europäischen Sozialfonds (ESF). Zwölf Projektträger, davon acht Volkshochschulen und vier freie Träger, stellen gezielt Kurs- und Lerngebote bereit, um berufstätige Menschen mit nicht ausreichenden Lese- und Schreibkompetenzen zu unterstützen.

Ziel ist, zunächst die Zahl der Teilnehmenden an Lernangeboten signifikant zu erhöhen, sodann zunehmende Lernerfolge zu sichern und dadurch schließlich die Zahl der Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten unter den baden-württembergischen Erwerbstätigen zu reduzieren.

Eine Werbekampagne des Kultusministeriums flankiert die Arbeit der Fachstelle und unterstützt die zwölf Projekte, für die seit Herbst 2015 insgesamt 1,25 Millionen Euro aus Mitteln des ESF bereit stehen. Die Projektträger finanzieren damit neue Lernangebote für Erwachsene.

Mit der Werbekampagne sollen insbesondere Erwerbstätige angesprochen werden, um etwa in Zusammenarbeit mit Unternehmen ihre Lese- und Schreibfähigkeiten und weitere arbeitsplatzorientierte Grundbildungskompetenzen zu verbessern.

 

Arbeitsplatzorientierte Grundbildung

Grundbildung beschreibt jene Kompetenzen, die für eine erfolgreiche Teilnahme an der Gesellschaft Voraussetzung sind. Grundbildung ist damit ein Oberbegriff für grundlegende Kompetenzen wie Lesen, Schreiben, Umgang mit digitalen Medien, Rechnen und Englisch; er ist unterhalb des Begriffs der Allgemeinbildung an- gesiedelt. Zur Grundbildung gehören auch kulturelle und politische Bildung. Bei der arbeitsplatzorientierten Grundbildung werden notwendige Lese- oder Schreibfähigkeiten aus der Praxis des jeweiligen Betriebs erlernt, etwa die branchen- oder berufsspezifische Fachsprache oder das Erstellen von Dokumentationen.

 

Analphabetismus Erwachsener – Ursachen  und Bewältigungsstrategien

Analphabetismus ist laut Bundesverband Alphabetisierung e.V. kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches und strukturelles Problem mit vielen Ursachen. Er entsteht im Zusammenspiel individueller, familiärer, schulischer und gesellschaftlicher Faktoren. Die Lebenswelterfahrungen der Betroffenen weisen dabei eine erstaunliche Parallelität auf. Ihnen ist gemeinsam, dass

  • sie in Elternhäusern aufwuchsen, die die Entfaltung von Persönlichkeit und persönlichen Fähigkeiten nachhaltig beeinträchtigten und so kein positives Selbstwertgefühl aufgebaut und kein ausreichendes Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten entwickelt werden konnten;
  • ihnen nur eingeschränkte Erfahrungen mit Sprache und Schrift möglich war und die Kommunikation oft entwicklungshemmend ausgeprägt war;
  • Schrift generell keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielte;
  • sie in durchlaufenen Schulen Misserfolgserlebnisse hatten und/oder nicht gefördert wurden.

 

Aus Angst und Scham trauen sie sich dann als Erwachsene nur selten, sich zu offenbaren und aktiv Hilfe und Unterstützung zu suchen. Meist gelingt es ihnen, dank der Unterstützung aus dem mitwissenden Umfeld wie Familie, Freundeskreis und Arbeitskolleginnen und -kollegen, ein relativ normales Privat- und Berufsleben zu führen.

Nach der grundlegenden Level-One-Studie (leo) zum Umfang des funktionalen Analphabetismus 2011 wurde dies im Jahre 2015 durch eine weitere Studie der Universität Hamburg zum mitwissenden Umfeld funktionaler Analphabetinnen und Analphabeten (sog. Umfeldstudie) aufgezeigt. Es wurde u.a. festgestellt, dass 47 Prozent der Mitwissenden nicht, aber 37 Prozent offen darüber sprechen, dass ein Mensch im Umfeld nicht ausreichend Lesen und Schreiben kann. Unabhängig von diesem Grad der Tabuisierung haben immerhin 32 Prozent der ersten und sogar 73 Prozent der zweiten Gruppe angegeben, Betroffene schon mehrfach beim Lesen und Schreiben unterstützt zu haben. Die Umfeldstudie fand auch heraus: Viele der Mitwissen- den haben das Gefühl, dass Betroffene im Alltag gut zurechtkommen. Die Hilfsmechanismen wirken oftmals so gut, dass ein Großteil der Befragten keine Notwendigkeit sieht, dass Betroffene in bestimmten Branchen über umfassende Lese- und Schreibkenntnisse verfügen müssen. Es gibt aber insbesondere im Beruf auch Grenzen.

 

Die Fachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg

… setzt hier als Koordinierungsstelle für die Grundbildungs- und Alphabetisierungsarbeit für Erwachsene im Land an und zeigt Wege auf, wie Betroffene und Unternehmen unterstützt werden können, und auch das mitwissende Umfeld wird angesprochen. Auf individueller Ebene ergeben sich insbesondere für niedrigqualifiziert Tätige, von Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer neue Chancen auf berufliche Weiterentwicklung und dauerhafte Beschäftigung. Unternehmen profitieren von der Anhebung des Kompetenzprofils der Beschäftigten.

Die Fachstelle fungiert für alle Betroffenen als erste Anlaufstelle durch Informations- und Beratungstelefon, wobei das Ziel der Beratung die Vermittlung an einen Projektträger bzw. anderen Träger von entsprechenden Kursen ist. Die Beratung erfolgt anonym und unverbindlich.

Für Unternehmen vermittelt die Fachstelle ebenfalls Kontakt zu Anbietern, die unternehmensspezifische Angebote entwickeln. So kann zunächst in einem zweistufigen Betriebs-Check ein Weiterbildungsbedarf ermittelt werden, um sodann im Dialog ein passgenau- es Angebot an Kursen zu entwickeln. Damit ist sicher- gestellt, dass Lernende das Gelernte sofort und direkt im Arbeitsprozess einbringen können und für Mitarbeitende wie Unternehmen gleichermaßen ein Mehrwert generiert wird.

Darüber hinaus bietet die Fachstelle unter anderem

  • Pflege des landesweiten Netzwerks der Projektträger
  • Bündeln und Weiterleiten von Informationen;
  • Öffentlichkeitsarbeit;
  • Zusammenarbeit mit Akteurinnen und Akteuren aus dem Komplex Bildung – Wirtschaft – Soziale Arbeit – Arbeitsverwaltung;
  • Planung, Organisation und Durchführung landes- weiter Veranstaltungen zum Thema;
  • Kontaktpflege zu Einrichtungen mit ähnlicher Aufgabenstellung aus anderen Bundesländern und nationalen Einrichtungen.


Alle Maßnahmen finden im Rahmen des operationellen Programms „Chancen fördern“ des ESF statt und haben das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit von Erwerbstätigen und der mittelständischen Wirtschaft zu stärken.