Demokratie und Bildung

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor des Volkshochschulverbandes Baden-Württemberg bis Dezember 2020 

I. Demokratie braucht Bildung

Dass Demokratie und Bildung zusammengehören, gilt als ausgemachte Sache. Historisch spricht für diese Erkenntnis die gemeinsame Karriere moderner Demokratie und allgemeiner Bildung seit Ende des 18. Jahrhunderts. Aber auch systematisch könnte die Verknüpfung kaum enger sein.

Demokratie setzt mündige Bürger/innen voraus. Mündigkeit erfordert zuallererst, gut informiert zu sein. Sodann müssen die Bürger/innen in (rechtsstaatlich-) demokratischen Verfahren artikulations- und kommunikationsfähig sein. Darüber hinaus kann nur selbstbestimmt handeln und entscheiden, wer über erhebliche Kritik- und Reflexionsfähigkeit verfügt. Notwendige Bedingungen von Demokratie sind demnach nicht nur zahlreiche Kompetenzen – Informations-, Medien-, Kommunikationskompetenz usw. –, sondern auch ein Bildungshintergrund, der die einzelnen Kompetenzen fruchtbringend in Beziehungen setzt.

Auch zu ihrer Reparatur setzt Demokratie auf Bildung. Von Populismus und der Krise Europas über die Kostenexplosion im Gesundheitswesen sowie den Umweltschutz bis hin zur Integration von Flüchtlingen und Zugewanderten soll das probate Mittel zur Abhilfe oder zum Erfolg die Steigerung der politischen, gesundheitlichen, ökologischen, interkulturellen usw. Bildung der Bürger/innen sein. Grund- und Allgemeinbildung sowie deren möglichst vollständige Verallgemeinerung und ständige Vertiefung gelten als Allheilmittel und Lebenselixiere der Demokratie.

Die Kehrseite dieses Verständnisses von Demokratie sind freilich nicht geringe normative Erwartungen an deren Bürger/innen: an deren Bildungsbereitschaft und Bildungsfähigkeit. Bildung bedeutet indessen Selbst- Änderung der Person. Selbständerung ist aber nicht jedermanns und nicht jederfrau Sache. Sie kann also überfordern. Und ihre fortgesetzte Vertiefung kann vorhandene Fähigkeiten und Bereitschaften überlasten.

Der Einklang von Demokratie und Bildung ist demnach nicht störungsfrei. Die Ursachen dafür reichen tief.

 

II. Fremdheit

In ihrem emanzipatorischen Ziel konvergieren Demokratie und Bildung. Während Bildung dem individuellen Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit dient, intendiert Demokratie die kollektive Selbstbestimmung dadurch, dass die Herrschaft über alle durch die Allgemeinheit ausgeübt wird. So gesehen bedeutet Demokratie Herrschaft der Allgemeinheit – und der allgemeinen Bildung. Gleichwohl sind Demokratie und Bildung im Kern einander fremd: Bildung kann kein demokratischer Prozess sein. Und Bildung zeitigt keine demokratischen, weil keine gleichen Ergebnisse.

Dass jedes Bildungssystem stratifizierend, schichten- bildend wirkt, also soziale Ungleichheit produziert und stabilisiert, ist mittlerweile eine gesicherte Erfahrung. Auf die demokratische Grundannahme der Gleichheit der Menschen und Bürger/innen wirkt diese, ihre Verschiedenheit betonende gesellschaftliche Realität delegitimierend. Zur (Re-)Legitimation versuchen wir, dieser Wirkung in Diskursen etwa über „Teilhabedefizite“, „bildungsferne Schichten“ oder „soziale Mobilität“ zu entkommen.

Allen Ideologien zum Trotz kann Bildung auch kein demokratischer Prozess sein. Da man nicht wissen kann, was man nicht weiß, bedarf man auf dem Weg vom Informations- und Wissenserwerb zur Bildung auch als Erwachsene/r wenigstens einer anleitenden Beratung aufgrund überlegenen Wissens. Diese fremdbestimmend wirkende Überlegenheit und strukturelle Asymmetrie des Bildungsprozesses als Kommunikation ist prinzipiell unaufhebbar. In der Erwachsenenbildung thematisiert man sie als paternalistischen Grundzug (Thomas Fuhr, Weiterbildung als Paternalismus und Vertrag, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 2003, S.376 ff.). Im Interesse der Bildung die Asymmetrie möglichst zu verschleiern, arbeitet die (Erwachsenen-)Bildung freilich mit zahlreichen Gleichheitsfiktionen und anderen professionellen Anstrengungen.


III. Folgerungen

Hinsichtlich der erforderlichen Bildung ihrer Bürger/ innen leben demokratische Gesellschaften mithin von Voraussetzungen, die mit demokratischen Grundprinzipien wie Gleichheit und Selbstbestimmung nicht vereinbar sind. Daraus folgt zunächst aber nur, dass Demokratie nicht überall herrschen kann, also beschränkt ist.

Aus der Fremdheit von Demokratie und Bildung ergeben sich aber noch zwei weitere Konsequenzen.

Demokratien neigen dazu, immer mehr gesellschaftliche, vor allem politische Probleme, die andere gesellschaftliche Funktionssysteme nicht effektiv zu bearbeiten vermögen, über Bildung lösen zu wollen. Das führt nicht nur zu einer heillosen Überforderung des Bildungssystems, sondern vor allem zu einer heillosen Überforderung der Menschen, die diese Bildungsleistungen erbringen sollen. Auch die (Selbst-) Veränderungsfähigkeit der Menschen ist beschränkt. Aus dieser Perspektive verbirgt sich hinter der Rede vom Lebenslangen bzw. Lebensbegleitenden Lernen auch eine wenig humane Individualisierung gesellschaftlicher Probleme.

Andererseits muss auch das Bildungssystem seinerseits der Verführung widerstehen, sich als Allheilmittel geschmeichelt zu fühlen und sich selbst zum Allheilmittel zu stilisieren. Sonst wird es unweigerlich Opfer von zu viel Enttäuschung.

Demokratie kann Bildung also überfordern. Umgekehrt kann Bildung aber auch Demokratie überfordern. Normative Bildungsverständnisse suggerieren einen individuellen moralischen Fortschritt durch Bildung, der, auf die demokratische Gesellschaft übertragen, ethische Erwartungen wachsen lässt, an denen die Gesellschaft in der Realität scheitern muss: Denn bei allen ihren Vorzügen ist Demokratie nicht nur beschränkt, sie ist – mangels idealer Menschen – auch keine ideale Herrschaftsform.