Grundbildung und Demokratie

Autorin: Prof. Dr. Wibke Riekman

Demokratie und Politik sind derzeit in aller Munde. Und das liegt nicht nur an dem Bundestagswahljahr 2017. Wir sorgen uns um den Zustand unserer Demokratie und den zukünftigen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Breite Teile der Bevölkerung trauen den klassischen politischen Institutionen nicht mehr. Es gibt ein Gefühl der Ohnmacht und der Verdrossenheit gegenüber den politischen Akteuren. Colin Crouch hat diesen Zustand als „Postdemokratie“ (Crouch 2008) bezeichnet. Der wachsende Zuspruch zu den rechtspopulistischen Parteien in Europa gehört zu dieser Krise. Wie kommt es zu diesen Entfremdungsphänomenen? Ein Grund liegt möglicherweise darin, dass Demokratie nur als eine Herrschaftsform wahrgenommen und mit repräsentativer Demokratie gleichgesetzt wird. Es fehlt das Erleben der Demokratie in der eigenen Lebenswelt, es fehlt das Erfahren der Demokratie als Lebensform.

 

Demokratie als Lebens- und Herrschaftsform

Demokratie ist auf der einen Seite eine politische Herrschaftsform, die im besonderen Maß auf Bildung angewiesen ist, da sie auf der Beteiligung und Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger beruht.

Demokratie braucht Bildung, weil sie nicht von selbst entsteht, sondern gelernt und gelebt werden muss. Oder wie Negt es ausdrückt: „Demokratie ist die einzige Herrschaftsform, die in ständig erneuerter Kraftanstrengung gelernt werden muss (…).“ (Negt 2002). Auf der anderen Seite ist Demokratie gleichzeitig auch eine Lebensform, die im Alltag praktiziert werden muss, um sie erfahrbar zu machen. So hat es John Dewey bereits Anfang des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet.

„Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung.“ (Dewey 2000/1916: 121)

Dewey verweist uns also auf den Umstand, dass man Demokratie nicht lernt, indem man Regierungen wählt und regiert wird, sondern indem man demokratisches Mitentscheiden im eigenen gesellschaftlichen Leben erfährt, also Demokratie im Alltag praktiziert. Demokratie beginnt vor Ort, in der Kommune, im Stadtteil, im Verein, in der Schule, im Kindergarten.

Hier ist der Ort der Demokratie als Lebensform und hier machen, muss aber nicht nur das Ergebnis von Bildung ein/e mündige/r oder demokratische/r Bürger/in sein, sondern auch der Bildungsprozess als solcher muss demokratisch gestaltet sein. Richter betont, dass wir uns in demokratischen Bildungsprozessen alle auf einer Augenhöhe befinden und miteinander in einen Aushandlungsprozess treten, unabhängig von unserem eigenen Wissen, unseren Vorerfahrungen, unseren Titeln oder unseres Alters.

„Pädagogik ist danach der vom Handlungszwang entlastete Diskurs eines kommunalen Publikums unter Anleitung von Experten (oder Kritikern), die wiederum selber von dem immer auch schon mündigen Publikum durch bessere Argumente gebildet werden können.“ (Richter 2001: 215).

Wer ist das kommunale Publikum, von dem Richter spricht? Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die in einem öffentlichen Diskurs, z. B. in den oben genannten Institutionen ihre Belange aushandeln und sie dann auf den verschiedenen Ebenen einbringen. Wer sich aktuell legitimiert an diesem Diskurs beteiligen kann, wer also das „Volk“ ist, diese Frage wurde historisch unterschiedlich gelöst: In der attischen Demokratie gehörten die Frauen, die Sklaven und andere Fremde nicht dazu. Nur wer Bürgerin oder Bürger Athens war, konnte an der Volksversammlung teilnehmen. Auch im heutigen Verständnis sind nicht alle Menschen das „herrschende Volk“ – Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren werden beispielsweise weiterhin systematisch vom Wahlrecht auf bundesdeutscher Ebene ausgeschlossen.

Nach Richter (1998) gibt es aber keine theoretische Rechtfertigung, um Teile der Bevölkerung systematisch von der Teilnahme an Diskursen auszugrenzen. Er arbeitet auf der Grundlage von Habermas’ Diskurstheorie heraus, dass wir im Alltag gar nicht anders können, als mit der Unterstellung der gegenseitigen Mündigkeit zu handeln.

Die Unterstellung der Diskursfähigkeit und der idealen Sprechsituation für Diskurse ist so abstrakt und allgemein wie unhintergehbar. Willkürlich ist einzig, systematische Ausgrenzungen der Teilnahme vorzunehmen. Wir machen diese Unterstellung, solange die Würde des Menschen unantastbar ist, solange wir überhaupt mit anderen Menschen unter dieser Voraussetzung reden. (Richter 1998: 69)

Es gibt also keine theoretische Begründung, um Menschen grundsätzlich vom Demos auszuschließen, wenn wir davon ausgehen, dass „Betroffenheit eine eigene Kompetenz darstellt“ (Richter 1998: 68). Wenn Betroffenheit hier als Kriterium eingeführt wird, ist dies auch entscheidend für die Klärung der Fragen, wer an Entscheidungen zu beteiligen ist und wie in der Demokratie Herrschaft ausgeübt wird. Das bedeutet also, dass in diesem Verständnis zum Demos alle von der Entscheidung betroffenen Menschen zählen, einschließlich künftiger Generationen, weswegen es grundsätzlich eine Revidierbarkeit von Entscheidungen geben muss. Wenn Betroffenheit eine eigene Kompetenz ist, dann ist erst einmal festzuhalten, dass es auch keine Mindestniveaus von Grundbildung geben kann, die dafür instrumentalisiert werden, um Menschen von der Teilnahme auszuschließen. Was bedeutet das für die Grundbildung?

 

Was ist Grundbildung?

Die Diskussion um Grundbildung changiert zwischen den Polen der Befähigung und der Bevormundung. Bevormundung bedeutet, Menschen zu sagen, was für sie richtig ist, weil „man“ es besser weiß. Ziel von Grundbildung aber ist es vielmehr, Menschen zur Teilnahme an Demokratie zu befähigen, damit sie selbst(bewusst) Teil des demokratischen Aushandlungsprozesses werden können.

Wenn wir über den Begriff Grundbildung diskutieren, dann meinen wir alle das Gleiche und jeder etwas anderes. In die deutsche Diskussion gelangt der Grundbildungsbegriff über das Transportschiff der Alphabetisierung. Anfang der 1990er Jahre gerät die klassische Alphabetisierungsarbeit in eine Krise. Das Gelernte konnte nicht in den Alltag überführt werden, so dass über die reine Alphabetisierungsarbeit keine Teilhabe an der Gesellschaft gesichert werden konnte. Seitdem wird darüber diskutiert, was alles zur Grundbildung gehört und was zum Lesen und Schreiben zusätzlich dazu kommen muss. Euringer immer stärker ICT Kompetenzen. Die Inhalte von Grundbildung sind also verhandel- und wandelbar. Bei der Frage des Zusammenhangs von Demokratie und Grundbildung kann es also nicht im engeren Sinne um die Inhalte von Grundbildung gehen, da diese von Konjunkturen und politischen Schwerpunktsetzungen abhängig sind, sondern vielmehr um den Zugang zu Grundbildung.

Grundbildung darf keine Voraussetzung für die Teilnahme an Demokratie sein Grundbildung ist demnach ein guter Katalysator für Demokratie, aber keine notwendige Bedingung. Menschen können auch mit geringer Grundbildung an Demokratie teilnehmen. Um wirkungsvoll ihre eigene Teilhabe an der Demokratie auszuhandeln, ist es aber eben unter den momentanen Bedingungen von Demokratie hilfreich, über bestimmte

Grundkompetenzen zu verfügen. Es geht pädagogisch demnach darum, Menschen zu Demokratinnen und Demokraten zu bilden und politisch ist es das Ziel, ihnen strukturell eine aktive Praxis der Einflussnahme, also Teilhabe, zu ermöglichen. Die Diskussion muss demnach von beiden Seiten geführt werden. Partizipation kann als Meta-Begriff genutzt werden, der Teilhabe und Teilnahme umfasst. Partizipation gründet auf der gesellschaftlich verhandelten, demokratisch legitimierten Teilhabe an Gestaltungsoptionen im Sinne einer, auch unkonventionell, widerständig und auf die Revision der herrschenden Verhältnisse gedachten, Selbst- und Mitbestimmung. Folglich geht es darum, Barrieren der Partizipation herabzusetzen und andererseits auch die Strukturen und Verfahren in Frage zu stellen und neue Wege der Beteiligung zu suchen. Wie können wir möglichst vielen Menschen die Chance zur Partizipation eröffnen? Wer die Demokratie als Lebens- und Herrschaftsform ernst nimmt, sieht sofort, dass dieser Punkt sich nicht darin erschöpfen kann, dass Wahlprogramme in Leichter Sprache vorliegen müssen.

Grundbildung und Demokratie sind dialektisch aufeinander bezogen. Wenn wir Demokratie als Lebensform wieder erfahrbar machen wollen, müssen wir unsere (Bildungs-)Institutionen kritisch überprüfen und uns die Frage stellen, inwieweit wir genug dafür tun, Partizipationschancen zu fördern. Gleichzeitig muss Grundbildung für alle Menschen jederzeit zugänglich und verfügbar sein, damit die Menschen die Gestaltungschancen auch ergreifen können.

 

Literatur:

Crouch, C. (2008): Postdemokratie. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Dewey, J. (2000/1916): Demokratie und Erziehung: Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Weinheim, Beltz.

Duncker-Euringer, C. (2017): Was ist Grundbildung? In: Menke, B.; Riekmann, W. (Hg.): Politische Grundbildung. Schwalbach/Ts., Wochenschau Verlag.

Negt, O. (2002): Arbeit und menschliche Würde. Göttingen, Steidl: 747.

Richter, H. (1998): Sozialpädagogik – Pädagogik des Sozialen: Grundlegungen, Institutionen, Perspektiven der Jugendbildung. Frankfurt am Main, Lang.

Richter, H. (2001): Kommunalpädagogik: Studien zur interkulturellen Bildung. Frankfurt am Main, Lang.

 

Zum Nachlesen:

http://www.alphabetisierung.de/fileadmin/files/Dateien/ Downloads_Texte/leo-Presseheft-web.pdf

http://blogs.epb.uni-hamburg.de/umfeldstudie/

http://www.wochenschau-verlag.de/politische- grundbildung-2204.html

 

Zur Autorin:

Wibke Riekmann, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Theorie und Praxis in der Sozialpädagogik an der MSH Medical School Hamburg. Sie hat intensiv im Bereich der Alphabetisierung geforscht und ist Mitautorin der Leo-Level-One-Studie sowie der Studie zum Umfeld funktionaler Analphabetinnen und Analphabeten. Neben der Literalitätsforschung sind ihre weiteren Arbeitsschwerpunkte die demo- kratische und die politische Bildung, Jugend- und Jugendverbandsarbeit sowie Engagement und Ehrenamt.