Volkshochschulen für Europa

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor des Volkshochschulverbandes Baden-Württemberg bis Dezember 2020 

Trotz aller gegenteiligen Illusionen, die wir uns unentwegt machen, ja machen müssen, ist und bleibt die Zukunft ungewiss. Niemand kennt sie. Besonders ungewiss erscheint uns die Zukunft in aufgewühlten, aufregenden Zeiten. Und in solchen Zeiten leben wir derzeit. Im Vordergrund stehen dabei zwei Themen: das Thema „Flüchtlinge/Zuwanderung/Integration“ und das Thema „Europa“.

Beiden Themen werden wir nur gerecht, wenn wir sie wesentlich auch als Bildungsaufgaben für die Allgemeinheit begreifen. Selbstverständlich kann die Weiterbildung fehlende politische und wirtschaftliche Problemlösungen nicht kompensieren. Sie kann aber zum Verständnis der jeweiligen Aufgabe, zum Verständnis der Größe der Herausforderung und dadurch dazu beitragen, dass die Bevölkerung Nutzen und Kosten der zu treffenden Entscheidungen besser einschätzen kann.

 

1. Integration als Bildungsaufgabe

So stellt sich die Integrationsfrage ja keineswegs nur hinsichtlich der Menschen, die regulär nach Deutschland zuwandern, sondern gerade auch hinsichtlich des großen Anteils der Flüchtlinge, die nicht alsbald wieder in ihre jeweilige Heimat zurückkehren (können). Auch sie müssen integriert werden.

Schon die sprachliche Integration einer so großen Zahl von Menschen erweist sich dabei gerade als Herkulesaufgabe. Ein noch anspruchsvolleres Ziel ist die kulturelle Integration. Schon gar, wenn es um die Integration in eine pluralistische Gesellschaft wie die unsere geht. Das sieht man spätestens daran, dass es uns selbst sehr schwer fällt, klar zu sagen, was Integration bedeuten soll. Geht es nur um die Einhaltung der geltenden Rechtsnormen, von den Feiertagsgesetzen bis zum Strafrecht? Oder bedarf es der zusätzlichen Anerkennung bestimmter Werte, sogenannter Grund- oder Leitwerte? Und wenn ja, welche Werte im Einzelnen sollen anerkannt werden? Soll Integration überhaupt gelingen können, müssen wir sagen, wann sie erreicht ist. Die erwähnten Unklarheiten dürfen wir den bei uns Ankommenden also nicht zumuten. Wir als aufnehmende Gesellschaft schulden im Interesse aller Beteiligten Klarheit in den Anforderungen an Integration, auch und gerade in unserem eigenen Interesse.

Das zentrale Strukturprinzip einer pluralistischen Gesellschaft und damit unserer Gesellschaft ist die Relativität religiöser und politischer Weltanschauungen, die Relativität von Überzeugungen bis hin zur Relativität von Lebensentwürfen. Eine pluralistische Gesellschaft kennt keine absoluten, unbedingten Wahrheiten. Deshalb herrschen in einer pluralistisch verfassten Gesellschaft nicht Homogenität und Einheit, sondern Verschiedenheit und Differenz.

Integration in eine solche Gesellschaft erfordert deshalb zum einen die Fähigkeit, solche Differenzen erkennen, thematisieren und vor allem: aushalten zu können. Zum anderen erfordert sie die Fähigkeit, solche Differenzen übergreifende Strukturen und Kooperationsmöglichkeiten wahrnehmen und nutzen zu können.

Die Umstellung des Gemeinwesens von Einheit auf Differenz sowie das Aushalten und kooperative Überwinden von Differenz ist indessen ein Programm, das nicht weniger als die gesellschaftliche Entwicklung der sogenannten westlichen Gesellschaften seit Ende des 18. Jahrhunderts zum Gegenstand hat. Zur Integration gilt es, diese Entwicklung denkend nachzuvollziehen. Deshalb ist Integration für die Menschen, die zu uns kommen, eine Bildungsaufgabe, und zwar eine ziemlich anspruchsvolle.

Daneben bedarf es aber auch auf unserer Seite der Bildung, nämlich vor allem der interkulturellen Bildung. Wir alle müssen es uns ermöglichen, die Kompetenzen und den Reichtum fremder Kulturen kennen und schätzen zu lernen. Und wir müssen dazu beitragen, dass sich Toleranz und Anerkennung von Andersartigkeit entwickeln können. Das Angebot der Volkshochschulen richtet sich an beide Seiten.

 

2. Europa als Bildungsaufgabe

Als mindestens ebenso große Herausforderung wie die Aufgabe der Integration erweist sich der Zustand der Europäischen Union. Spätestens die Brexit-Diskussion und die dann getroffenen Entscheidungen haben uns allen offenbart, dass wir weitestgehend vergessen haben, wozu die Europäische Union eigentlich nütze ist.

Die wahrhaft historische Leistung der Befriedung Europas überzeugt uns nicht mehr, weil wir uns an den mehr als angenehmen Frieden schon nach gut siebzig Jahren als selbstverständlich gewöhnt haben. Und die zweite große Leistung des wirtschaftlichen Wohlstands fällt als rechtfertigende Leistung neuerdings aus, weil sie durch die Finanzkrise in erhebliche Zweifel geraten ist.

Andererseits liegt die zentrale Rechtfertigung der Europäischen Union doch auf der Hand: Insbesondere das Finanzsystem, die Wirtschaft und die Technik, aber auch andere gesellschaftliche Funktionssysteme entziehen sich in ihren Wirkungen immer mehr der Reichweite nationalstaatlicher Regelungs- und Steuerungsmöglichkeiten, vor allem in ihren Auswirkungen auf ihre jeweilige gesellschaftliche Umwelt und nicht zuletzt auch auf die natürliche Umwelt. Deshalb bedarf es zunehmend transnationaler, internationaler Regelung und Steuerung. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Europäische Union als ein notwendiger Zwischenschritt auf dem richtigen Weg – und erweisen sich Exit-Hoffnungen, zur Nationalstaatlichkeit zurückkehren zu können, als Illusion.

Wenn es aber gar nicht der rechtfertigende Zweck ist, woran fehlt es hinsichtlich der Europäischen Union und Europa dann? – Zum einen offensicht- lich an unserem Sinn für Selbstverständlichkeit bzw. Unwahrscheinlichkeit. Frieden zwischen den Staaten der EU, Frieden in Europa insgesamt ist nicht selbstverständlich.

Aus historischer Perspektive war und ist er eher unwahrscheinlich, und deshalb eine permanente Leistung. Dieser (langfristige) Nutzen rechtfertigt (kurzfristige) Kosten und (kurzfristigen) Verzicht. Zu dieser Einsicht kann jedoch nur gelangen, wer über einen Zugang zu der historischen Dimension des Projekts Europa die Funktionsweise der EU versteht und die Entwicklungsnotwendigkeiten Europas einschätzen kann. Deshalb ist Europa wesentlich auch eine Bildungsaufgabe.

Aber nicht nur deshalb. Spätestens die europäische Flüchtlingskrise zwingt uns zu der Erkenntnis, dass es uns in Europa an der Bereitschaft zu – eigenen Verzicht einschließender – Solidarität zwischen den europäischen Staaten und zwischen allen Unionsbürgern fehlt. Ohne diese Solidarität wird es aber auch angesichts der in den europäischen Ländern (noch) vorhandenen Unterschiedlichkeit der Lebensbedingungen und Lebensverhältnisse nicht gehen.

Auch Solidarität muss und kann man lernen. Sie beginnt mit gegenseitiger Verständigung und verdankt sich gegenseitigem Verständnis.

 

3. Volkshochschulen als Schulen für Europa

Geht es zunächst und primär darum, möglichst vielen Menschen die historische Dimension des Projekts Europa näher zu bringen und ihnen zu ermöglichen, europäische Solidarität zu lernen, ist das eine Aufgabe für die Volkshochschulen. Sie eignen sich als Schulen für Europa, weil sie für alle offen, flächendeckend verbreitet und parteipolitisch neutral sind. Und weil sie über das dem Gegenstand angemessene umfassende Angebot verfügen, das es ihnen erlaubt, „Europa“ – wie „Integration“ – als Querschnittsaufgabe zu begreifen: Volkshochschulen ermöglichen das Erlernen aller europäischen Sprachen, einschließlich des Kennenlernens der jeweiligen kulturellen Hintergründe, Eigenheiten und Traditionen. Zusätzliche vertiefende Einblicke gewähren ihre länderkundlichen Veranstaltungen.

Kulturelle und interkulturelle Bildung an Volkshochschulen fördert das wechselseitige Verstehen, bauen Vorbehalte gegenüber Fremdem ab und steigern Toleranz und gegenseitige Akzeptanz. Kulturelle Alternativen und alternative Problemlösungen generell helfen, die eigenen kulturellen Prägungen und die eigenen Lösungen besser zu verstehen und gegebenenfalls zu verbessern.

Europäische Vielfalt ermöglicht es, voneinander zu lernen.

Werke der Bildenden Kunst, der Literatur, des Films usw. aus unterschiedlichen europäischen Ländern machen Europa auch sinnlich erlebbar. Noch unmittelbarer gelingt das durch direkte menschliche Begegnungen. Über „Erasmus+“ und andere Förderprogramme der Weiterbildung geben die Volkshochschulen Gelegenheiten zu Begegnungen mit anderen Europäerinnen und Europäern. Einblicke in deren Arbeits- und Lebenswelten verhelfen zu neuen Sichtweisen, weiten den Horizont und stärken dadurch die Persönlichkeit.

Direkte Begegnung und unmittelbares Erleben schaffen aber vor allem die Grundvoraussetzung aller Solidarität: in seinem Gegenüber auch sich selbst erkennen zu können.

Gleiches gilt für Bewegungs-, Entspannungs-, Koch- und Tanzkurse für Teilnehmende aus unterschiedlichen Ländern, die erfahrungsgemäß in besonderer Weise das Wir-Gefühl stärken.

Volkshochschulen vermitteln darüber hinaus grund- und allgemeinbildende kommunikative, soziale, politische, wirtschaftliche sowie geschichtliche Kenntnisse und Kompetenzen und bieten damit alle Möglichkeiten, historische Ereignisse und Entwicklungen in größeren Zusammenhängen zu sehen und die Notwendigkeit von Solidarität zu begreifen.

 

4. Teilhabe

Das Programm „vhs für Europa“ bedeutet ebenso wenig eine politische Instrumentalisierung der Volkshochschulen wie ihr sehr umfangreicher und engagierter Einsatz im Feld der Integration, der sich ja auch nicht darin erschöpft, Deutsch (als Fremdsprache) zu unterrichten. Eine politische Indienstnahme scheitert schon daran, dass die Volkshochschulen die Aufgabe selbst wählen und nach ihren Prinzipien bearbeiten und erfüllen. Etwa nach dem ehernen Prinzip der (politischen) Erwachsenenbildung: „befähigen, nicht überwältigen“.

Was politisch, juristisch, wissenschaftlich und im gesellschaftlichen Diskurs umstritten ist, wird in der Volkshochschule auch als umstritten dargestellt und diskutiert. Volkshochschulen schlagen sich also weder auf die Seite der Verteidiger noch auf die Seite der Kritiker Europas oder gar der EU. Sie stehen vielmehr auf der Seite ihrer Teilnehmenden, genauer: auf der Seite der Autonomie ihrer Teilnehmenden.

In diesem Sinne ist „vhs für Europa“ eine Initiative der Volkshochschulen zur Befähigung möglichst vieler Menschen zu informierter und souveräner Teilnahme und Teilhabe am Prozess Europa.

 

5. Lebensbegleitendes Lernen

Die beiden gesellschaftlichen Herausforderungen der Integration und der Entwicklung Europas sind nicht nur von besonderer politischer Bedeutung, sondern zeigen darüber hinaus exemplarisch auch eine Grundtendenz unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Nämlich die Tendenz, dass normative Muster an Zukunftsfähigkeit verlieren. Beim Thema „Flüchtlinge/Zuwanderung/Integration“ ist es das Konzept der kulturellen Dominanz, das sich nicht aufrechterhalten lässt. Beim Thema Europa ist es das Konzept Nationalstaatlichkeit. Ob es uns gefällt oder nicht: Wir müssen uns von normativen Gewissheiten zunehmend verabschieden, um uns lernend auf Veränderungen einzustellen.

Wegen dieser Erosion des Normativen gelingt es unserer modernen Gesellschaft immer weniger, die Ungewissheit der Zukunft normativ zu bannen. Frühe Gesellschaften schafften das durch Magie, spätere durch Religion. Seit der Aufklärung müssen wir es kognitiv versuchen: mit Bildung.

Und zurzeit speziell mit lebenslangem, besser: lebensbegleitendem Lernen.

Lebensbegleitendes Lernen ist gleichsam die noch neue Hoffnung der Gesellschaft, für die Zukunft gerüstet zu sein.