Zwischenruf: Lob der Differenz

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor

Eine rasant ansteigende Zahl von Menschen verlässt aus ganz unterschiedlichen Gründen ihre Heimat und macht sich auf den Weg nach Europa und vor allem nach Deutschland. Der schiere Umfang dieser Zuwanderung macht die Begegnung mit den Fremden bei uns zu einem Problem von Zahlen und Zahlungen. Welches (Bundes-)Land übernimmt wie viele Flüchtlinge, wie lange dauern Asylverfahren und wie lassen sie sich beschleunigen und vor allem: wer zahlt wieviel?

Diese quantitativen Überlegungen überlagern die Frage nach dem Ziel von „Integration“. Neben denjenigen, die schon hier sind, wird voraussichtlich weit mehr als die Hälfte der derzeit ankommenden Menschen in Deutschland bleiben. Die Frage, wie wir uns diesen – zunächst? – Fremden gegenüber verhalten wollen, lässt sich aber nicht verdrängen, zumindest dann nicht, wenn man alte Fehler aus den 1960er Jahren nicht wiederholen will.

Da und soweit die Zuwanderung vor allem aus anderen Kulturkreisen stattfindet und jede Kultur im Kern von einem Wahrheitsanspruch getragen wird, lautet die Frage genau genommen, wie wir mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen umgehen wollen.

„Willkommenskultur“ ist kaum der Versuch einer Antwort. Schon deshalb, weil die Kultur des Willkommenheißens zur eigenen Kultur gehört und deshalb nicht interkulturell anschlussfähig sein muss. „Willkommenskultur“ ist daher bestenfalls ein Reflexionsbegriff, der daran erinnert, dass die pure Negation des Fremden ausscheidet und es nicht um Normalität geht, Routine also unangebracht ist.

Was angebracht ist, sagt „Willkommenskultur“ nicht. Prinzipiell gibt es drei Möglichkeiten, mit einem konkurrierenden Wahrheitsanspruch umzugehen. Man kann ihn von dem eigenen Wahrheitsanspruch aus tolerieren. Tolerieren heißt dulden, also ertragen.

Deshalb sagt Goethe: Dulden heißt beleidigen.

Man kann den konkurrierenden Wahrheitsanspruch auch akzeptieren, also als gleichwertig anerkennen. Damit nimmt man eine zustimmende Haltung ihm gegenüber ein.

Und man könnte das den eigenen von dem konkurrierenden Wahrheitsanspruch Unterscheidende, also die Differenz nutzen und feiern. Das wäre die höchste Form der Anerkennung.

Auf der Skala von Toleranz über Akzeptanz bis zum Lob der Differenz stellt die Endstufe die mit Abstand höchsten Ansprüche an den Umgang mit dem eigenen Wahrheitsanspruch. Toleranz sieht den eigenen Wahrheitsanspruch als höherrangig an. Akzeptanz erkennt die Gleichrangigkeit, hat aber keine Lösung für den Fall der Kollision der Wahrheitsansprüche. Das ist das Problem von „Multikulti“. Die Differenz der Wahrheitsansprüche zu nutzen und zu feiern, bedeutet auch, den eigenen Wahrheitsanspruch zu Gunsten des konkurrierenden zurücknehmen zu können, weil die andere Kultur ein soziales Problem besser löst.

Der Problemlösungsvergleich setzt die Erkenntnis der konkurrierenden Wahrheitsansprüche, die Erkenntnis ihrer spezifischen Differenz, die Kenntnis des Problembezugs sowie die Fähigkeit zur Beurteilung als „besser“ voraus. Kenntnis, Erkenntnisfähigkeit und Urteilskraft sind aber die zentralen Bausteine von Bildung. Lob der Differenz schließt demnach ein Plädoyer für lebensbegleitendes Lernen und für Bildung, vor allem für interkulturelle Bildung, ein. Und zwar für lebensbegleitendes Lernen und interkulturelle Bildung auf beiden Seiten: auf Seiten der Menschen, die kommen und auf Seiten der Menschen, denen die Kommenden begegnen.

Eine Gesellschaft, die Andersartigkeit nutzt und feiert, überwindet die Normativität kultureller Errungenschaften zu Gunsten der Erkenntnis besserer Problemlösung. Und diese Überwindung von Normativität zu Gunsten von Erkenntnis verdiente es, als Zweite Aufklärung begriffen zu werden.