Volkshochschule 2064

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor, Volkshochschulverband Baden-Württemberg

I. Einleitung

Über die Zukunft zu sprechen, ist deshalb leicht, weil sie ungewiss ist. Und je ferner die Zukunft ist, desto ungewisser ist sie. Also kann man bei der Frage, wie die vhs 2064 aussehen wird, kaum etwas falsch machen. Man kann mutmaßen und phantasieren, was immer man will. Niemand kann es widerlegen. Denn niemand kennt die Zukunft.

Will man die Zeit nicht an reine vhs-Phantasien verschwenden, empfiehlt es sich, zwei Maßnahmen zu ergreifen und von einer Voraussetzung auszugehen.

Die erste Maßnahme besteht in einer Unterscheidung. Nämlich in der Unterscheidung zwischen zukünftiger Gegenwart und gegenwärtiger Zukunft. Von der zukünftigen Gegenwart zu sprechen, ist wenig sinnvoll. Anders die Rede von der gegenwärtigen Zukunft, also von der Zukunft, wie sie sich aufgrund und aus der Perspektive unserer Gegenwart darstellt.

Zum zweiten wäre es eine Überforderung, die gesamte gegenwärtige Zukunft positiv konstruieren zu wollen. Erfolgreicher ist die Beschränkung – negativ – auf vier Entwicklungen, deren Nicht-Eintreten ausgesprochen unwahrscheinlich erscheint.

Und die Voraussetzung ist, dass sich die Entwicklungen hochkomplexer Gesellschaften wie der unseren nicht auf einen Begriff bringen lassen. Die Rede von der „Risikogesellschaft“ oder von der „Wissensgesellschaft“ ist viel zu einfach, um zutreffend sein zu können. Gesellschaftliche Entwicklung zeigt immer auch Gegenläufigkeiten, Kompensationen und Komplementaritäten.

 

II. Vier Entwicklungen

1. Spezialisierung

Der Motor der rasanten gesellschaftlichen Entwicklung der letzten gut 200 Jahre ist das Prinzip der aufgabenorientierten Spezialisierung. Während sich das Alte Reich in Schichten gliederte, ist die moderne Gesellschaft nach Funktionen gegliedert, also nach Aufgaben. Die Wissenschaft ist für die Wahrheit zuständig, die Wirtschaft für den Wohlstand, die Politik für allgemeinverbindliche Entscheidungen, das Rechtssystem für die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht, die Familie für Liebe usw. Diese Spezialisierung auf einzelne Aufgaben lässt die sogenannten westlichen Gesellschaften sich sehr viel schneller entwickeln als andere, nicht funktional differenzierte, etwa die russische Gesellschaft, um einen nicht allzu fern liegenden Vergleich zu bemühen.

Mit dem Prinzip der (aufgabenorientierten) Spezialisierung ist unsere Gesellschaft strukturell auf Höchstleistung getrimmt. Das macht sie so erfolgreich – und so anstrengend.

Nehmen wir die Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften. Sie produzieren aufgrund ihrer Spezialisierung ständig neues Wissen. Die Halbwertszeit des Wissens sinkt permanent. Wachsen- des Wissen führt beispielsweise zu leistungsfähigerer Technik, wirft aber auch zunehmend ethische Fragen auf, die die Gesellschaft beantworten muss.

Die Beantwortung dieser Fragen setzt in einem demokratischen Gemeinwesen eine informierte und entscheidungsfähige Gesellschaft voraus. Unsere Gesellschaft besteht jedoch aus Menschen wie wir, also aus Spezialisten. In einem engen Bereich verfügen wir über spezielles Wissen und über spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten. Auf allen anderen Feldern sind wir blutige Laien.

Angesichts der enormen Erfolge der beschriebenen Gesellschaftsstruktur ist deren grundsätzliche Veränderung in nächster Zeit extrem unwahrscheinlich. Das gilt auch und gerade, wenn man die keineswegs unerheblichen Folgelasten funktionaler Differenzierung in Rechnung stellt. Denn eine andere Differenzierungsform, die mit diesen Folgelasten fertig werden könnte, ist weit und breit nicht in Sicht. Also bedürfen wir auch zukünftig sogar mit steigender Dringlichkeit einer Bildungseinrichtung, die (wissenschaftliches) Spezialwissen ebenso wie eine höchst anspruchsvolle Kunst und Kultur in unser aller Verständnishorizont übersetzt, das heißt allgemeinverständlich macht. Eine Aufgabe der Zukunft lautet also: Allgemeinverständlichkeit ermöglichen.

 

2. Globalisierung

Ein Blick auf den Weg zu einem vereinten Europa zeigt, wie sehr die Ausdehnung der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Räume ein komplementäres Bedürfnis der Menschen nach überschaubaren Einheiten weckt. Deshalb ist eine Gesellschaft, die wie unsere den Weg der Globalisierung geht, auf bergende Kommunalität, um nicht zu sagen kommunale Geborgenheit angewiesen.

Bergende Kommunalität und kommunale Geborgenheit haben eine gemeinsame Voraussetzung: Die Fähigkeit der Menschen zur realen, nicht nur virtuellen, konkreten Begegnung. Begegnung schafft Verbindung und Verbundenheit. Da der Rückzug aus der Globalisierung in nächster Zeit extrem unwahrscheinlich ist, lautet eine weitere Aufgabe der Zukunft: Reale, konkrete Begegnungen ermöglichen.

 

3. Individualisierung

Eine der zahlreichen Folgen der Globalisierung ist – scheinbar paradoxer Weise – die zunehmende Individualisierung unserer Gesellschaft. Das Angebot, ja Über-Angebot an weltweiter, vor allem elektronischer Kommunikation wirft uns mehr und mehr auf uns selbst zurück. Vereinzelung und Gemeinschaftsunfähigkeit sind Folgen.

Neben der Tatsache, dass unsere Gesellschaft individuell sehr viel, für zu viele auch zu viel fordert, sind Vereinzelung und Gemeinschaftsunfähigkeit zentrale gesellschaftliche Herausforderungen. Wir thematisieren sie aktuell unter dem Titel „soziale Inklusion“. Dabei geht es um den Einschluss möglichst aller in den gesellschaftlichen Zusammenhang.

Solche Inklusion erfordert nicht nur, dass elektronische Datenverarbeitung und (mobile) Kommunikation via Internet als allgemeine Kulturtechniken für alle Bevölkerungsgruppen zur Selbstverständlichkeit werden. Sie verlangt auch, dass wir alle über eine Grund- und Allgemeinbildung auf der Höhe der gesellschaftlichen Entwicklung verfügen, um berufliche und wirtschaftliche Exklusion ebenso zu vermeiden, wie mitbestimmende politische Teilhabe zu ermöglichen.

Der Individualisierungs-Trend scheint ungebrochen, seine Umkehr unwahrscheinlich. Daraus ergibt sich eine dritte Aufgabe der Zukunft: Allgemeinbildung für alle ermöglichen.

 

4. Demografische Entwicklung/Integration

Hinter dem Stichwort „Demografische Entwicklung“ verbergen sich drei gesellschaftliche Herausforderungen: Unsere Gesellschaft wird in den kommenden Jahrzehnten kleiner und älter (a) und sie wird – durch Zuwanderung – bunter (b).

a) Aufgrund der niedrigen Geburtenrate ist die Notwendigkeit erheblich steigender Unterstützungsleistungen der selbst schrumpfenden und alternden mittleren Generation, also der Erwerbsbevölkerung, an die wachsende ältere Generation absehbar.

Diese Notwendigkeit erfordert zuallererst wachsendes Verständnis zwischen den Generationen und deshalb eine deutliche Verbesserung des inter- generationellen Dialogs und der intergenerationellen Begegnung.

b) In Baden-Württemberg beispielsweise leben knapp drei Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Das sind 27 % der Bevölkerung. Damit ist Baden- Württemberg das Flächenland mit dem höchsten Anteil an Migrant/innen. Der darin und in künftiger Zuwanderung steckenden Herausforderung der Integration können wir nicht nur in Baden-Württemberg nicht ausweichen.

Die Wahrnehmung von Integrationsaufgaben gehört zu den Kernaufgaben der Volkshochschulen – und zu ihren Kernkompetenzen. Seit Einführung der Integrationskurse im Jahre 2005 haben alleine in Baden-Württemberg weit über 50.000 Migrant/innen einen Integrationskurs an einer Volkshochschule durchlaufen. Rund 38.000 Personen haben dort einen Einbürgerungstest abgelegt. Hinzu treten zahlreiche Projekte, in denen die Volkshochschulen Migrant/innen die Erweiterung ihrer Sprachkompetenz in Deutsch ermöglichen.

Sprachliche Integration ist unabdingbare, aber keineswegs hinreichende Bedingung sozialer Integration. Hinzutreten muss kulturelle Integration.

Voraussetzung kultureller Integration ist interkulturelle Bildung. Die wesentlichen Ziele interkultureller Bildung sind:

  • die Bevölkerung über Zuwanderung und kulturelle Vielfalt zu informieren,
  • es ihr zu ermöglichen, die Kompetenzen und den Reichtum fremder Kulturen kennen und schätzen zu lernen sowie
  • zur Entwicklung von Toleranz und Anerkennung von Andersartigkeit beizutragen.
     

Angebote zur interkulturellen Bildung erstrecken sich über alle Fachbereiche des Volkshochschulangebots, vom Sprachenbereich über die politische Bildung, die Länderkunde bis zum künstlerischen Gestalten und zum Gesundheitsbereich. Die Angebote wenden sich an alle Bürgerinnen und Bürger – mit und ohne Migrationshintergrund. Unterschiedliche Veranstaltungsformen tragen dazu bei, dass sich Menschen verschiedener kultureller, sozialer und ethnischer Herkunft begegnen, austauschen und verständigen können. Und dieses Verständnis ist Voraussetzung jeder ernstzunehmenden kommunalen Willkommenskultur.

Im Rahmen der demografischen Entwicklung stellen sich demnach zwei weitere Aufgaben der Zukunft: Die Begegnung und den Dialog zwischen den Generationen und den Kulturen ermöglichen.

 

III. Ein doppeltes Fazit

1.  An gesellschaftlich wichtigen Aufgaben im Kernbereich von Volkshochschularbeit fehlt es also auch in den kommenden 50 Jahren nicht. Im Vordergrund steht dabei,

  • allen Bevölkerungsgruppen eine Allgemeinbildung auf der Höhe der Zeit zu vermitteln, die Gesellschaft also allgemeinverständlich zu machen (II. 1. und 3.)

und

  • die Begegnung und den Dialog zwischen allen Bevölkerungsgruppen, insbesondere zwischen den Generationen und den Kulturen zu ermöglichen (II. 2. und 4.).
     

Ob dieser Möglichkeiten wird es also an den Volkshochschulen selbst liegen, welche gesellschaftliche Rolle sie künftig spielen werden. Entwicklung ist ja das, was man aus den Zufällen macht, die einem begegnen. Wenn diese Beschreibung zutrifft, muss uns um die Volkshochschulen nicht bange sein. Sie werden Zufällen begegnen, die ihnen sehr günstig sind.

2.  Der kurze Blick in die gegenwärtige Zukunft erlaubt darüber hinaus eine zweite Feststellung, die hier nur noch kurz angedeutet sein soll. Die dargestellten Entwicklungen von der Spezialisierung über die Globalisierung und die Individualisierung bis hin zur demografischen Entwicklung zeigen eine fortschreitende Verlagerung der gesellschaftlichen Dynamik vom normativen in den kognitiven Erwartungsbereich, also gleichsam eine Erosion des Normativen.

Normative Erwartungen sind Erwartungen, die man auch gegen die abweichende Wirklichkeit aufrecht erhält. Wenn ein neues Auto nicht fährt, bleibt man dabei, dass es zu fahren hat. Und unsere Umgebung bestätigt uns darin, dass wir ein fahrendes Auto erwarten dürfen.

Kognitive Erwartungen sind Erwartungen, die man an die abweichende Wirklichkeit anpasst. Wenn man erwartet, dass ein neues Auto fliegt und es fliegt nicht, man bleibt aber dabei, dass es zu fliegen hat, bekommt man ein Problem mit seiner Umgebung. Man wird gezwungen, zur Kenntnis zu nehmen, dass Autos nicht fliegen.

Wegen dieser Erosion des Normativen gelingt es unserer modernen Gesellschaft nicht mehr, die Ungewissheit der Zukunft normativ zu bannen. Frühe Gesellschaften schafften das durch Magie, spätere durch Religion. Seit der Aufklärung müssen wir es kognitiv versuchen: durch Bildung. Und zurzeit speziell durch lebenslanges, besser: lebensbegleitendes, Lernen. – Für eine Bildungseinrichtung wie die Volkshoch- schule ist lebensbegleitendes Lernen natürlich eine blendende Perspektive.