Aufsuchende Bildungsarbeit – eine Herausforderung für die Volkshochschulen

Autor: Dr. Bodo Degenhardt

Die Volkshochschulen als Orte institutionalisierter Weiterbildung sind in ihrer Arbeit traditionell vor allem durch sogenannte „Komm-Strukturen“ geprägt, d. h. die Teilnehmenden kommen von sich aus in die Bildungseinrichtung. Sie besuchen dort Kurse, Seminare, Vorträge und  ähnliche  Bildungsveranstaltungen. Diese  sind  in der Regel zuvor aufgrund vermuteten Interesses von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Volkshochschule geplant, organisiert und anschließend ausgeschrieben worden.

Natürlich gibt es schon seit jeher Abweichungen von diesem Grundprinzip, in dem die Volkshochschulen selbst auf potentielle Teilnehmende zugehen – es entstehen sogenannte „Geh-Strukturen“ in unterschiedlicher Ausprägung. So werden Bildungsveranstaltungen bisweilen aufgrund gezielter Bedarfserhebungen, durch Nachfragen bei bestimmten Personengruppen oder auch in Kooperation oder Absprache geplant und durchgeführt. Volkshochschulen begeben sich z. B. in Schulen und Unternehmen, in Bibliotheken und Muse- en, aber auch in Kindertagesstätten oder Seniorenzentren, um dort mit den jeweils Verantwortlichen Weiterbildungsbedürfnisse zu ermitteln und dafür geeignete Angebote zu entwickeln. Diese finden dann meist auch „vor  Ort“  in  den  entsprechenden  Einrichtungen  und nicht in der Volkshochschule und ihren Räumen statt. Zumeist handelt es sich um geschlossene Weiterbildungsveranstaltungen speziell für die jeweils dort angesprochenen Personengruppen.

Zur Angebotswerbung müssen sich die Volkshochschulen zwangsläufig in die Öffentlichkeit begeben. Traditionell geschieht dies vor allem durch die Verteilung von Programmheften und Faltblättern, durch die zusätzliche Programmveröffentlichung auf der Website, durch Direktwerbung per E-Mail bzw. Newsletter sowie zukünftig vielleicht auch durch stärkere Präsenz in den neuen (sozialen) Medien. Relativ selten und sehr aufwendig ist die direkte persönliche Ansprache von potentiellen Teilnehmenden etwa auf Infoständen und Bildungsmessen.

Alle diese Formen aufsuchender Bildungsarbeit – von der Angebotsplanung über die Werbung und Beratung bis hin zur Durchführung an ungewohnten Lernorten – wurden im Rahmen der sozialpädagogisch und bildungspolitisch motivierten Zielgruppenarbeit bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren vielfach entwickelt und exemplarisch erprobt. Sie haben allerdings in der Folge aufgrund von stärker integrativen Ansätzen in der Erwachsenenbildung an Beachtung verloren. Erst mit der Betonung des notwendigen lebenslangen, lebensbegleitenden Lernens – nicht zuletzt hinsichtlich des demografischen Wandels – ist die Bedeutung einer breiten Bildung für alle Bevölkerungsgruppen zur  Zukunftssicherung wieder erkannt worden. Nun kommt es dar- auf an, auch die gering qualifizierten und oftmals  lern- ungewohnten Menschen zu erreichen und für Bildungsangebote zu gewinnen, damit Ihnen mehr gesellschaftliche und berufliche Teilhabe möglich wird.

Da es sich bei diesem Personenkreis überwiegend um bildungsferne und bildungsbenachteiligte Menschen handelt, die in der Regel nicht in die Bildungseinrichtungen kommen, müssen diese zwangsläufig zu den betroffenen Menschen gehen, um  sie anzusprechen. Die Betroffenen müssen also – wie es bisweilen etwas salopp formuliert wird – „dort abgeholt werden, wo sie sind“. Das  ist nun keinesfalls nur örtlich gemeint – z. B. an ihrem Wohnort, im Stadtteil oder in einer Einrichtung, am Arbeitsplatz oder in einem Verein –, sondern auch hinsichtlich ihrer jeweiligen Lebenssituation und ihres gesellschaftlichen Umfelds und damit vor allem in Bezug auf die Themen, die sie interessieren und die für sie und ihre aktuelle Lebensbewältigung von Bedeutung sind und deshalb einen Grund zum Lernen bilden können.

Zu dieser sozialintegrativen Perspektive gehört außer- dem die Beachtung der biografisch bedingten Lernerfahrungen und Lernmöglichkeiten der Adressatinnen und Adressaten, auf die ein geeignetes didaktisch- methodisches, zumeist niedrigschwelliges Vorgehen bis hin zur sozialpädagogischen Unterstützung abgestimmt werden muss. Schließlich ist neben dem geeigneten, möglichst vertrauten Lernort auch noch der Faktor Zeit in seinen verschiedenen Dimensionen zu beachten. Nicht nur wann, sondern auch wie lange und wie oft und mit welcher zeitlichen Perspektive können bildungsungewohnte Menschen für Lernprozesse motiviert, verlässlich gewonnen und vielleicht sogar begeistert werden?

Gelingende aufsuchende Bildungsarbeit bedeutet da- her,  aus  den  verschiedenen, untrennbar  zusammen gehörigen Puzzle-Teilen wie Inhalt und Form (d. h. Themen und Methoden) sowie Ort und Zeit möglichst passende – „passgenaue“ oder „maßgeschneiderte“ – Angebote gemeinsam mit den Betroffenen zu entwickeln. Aufgrund der Vielfalt der Lebensbezüge und Lebenslagen sowie der individuellen Voraussetzungen und Bedürfnisse sind dabei oftmals gemeinsame Lernangebote nur für relativ kleine Gruppen möglich bzw. sinnvoll. Diese erfordern vielfach eine besondere sozialpädagogische Qualifikation der Unterrichtenden. Hinzu kommt zumeist die Notwendigkeit intensiver Bildungswerbung und -beratung im Vorfeld sowie fallweise unterstützende Begleitung während des Lernens. Da es sich bei vielen bildungsbenachteiligten Menschen zugleich um sozial benachteiligte, d. h. häufig einkommensschwache Personen handelt, können für diese Bildungsangebote kaum nennenswerte Entgelte gefordert werden. Aufsuchende Bildungsarbeit für bildungsbenachteiligte Menschen ist deshalb nicht nur außerordentlich personalaufwendig, sondern auch sehr kostenintensiv. Sie kann daher nicht von einer einzelnen Bildungseinrichtung allein geleistet werden, sondern erfordert als gesamtgesellschaftlich notwendige Bildungsaufgabe tragfähige Netzwerke verschiedener Partner mit zielorientierten Kooperationen auf allen Ebenen sowie vor allem eine angemessene, verlässliche öffentliche Finanzierung, und zwar weitgehend unabhängig von zeitlich begrenzten und eher zufälligen Projektförderungen. Sind die notwendigen strukturellen, personellen und finanziellen Voraussetzungen erfüllt, können die Volkshochschulen auf der Grundlage ihrer vielfältigen Erfahrungen in der Zielgruppenarbeit die Herausforderung aufsuchender Bildungsarbeit erfolgreich aufnehmen und dazu beitragen, mehr bildungsbenachteiligte und lernungewohnte Menschen für Weiterbildungsaktivitäten zu gewinnen.