Integrationsverweigerung – Ein Zwischenruf

Autoren: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor und Martina Haas, Fachreferentin Sprachen und Integration, Volkshochschulverband Baden-Württemberg


Auch Wahrheit ist relativ. Man muss schon genau hin- hören, von wem und wann welcher Inhalt verkündet wird. Mitten in der sarrazingeschädigten Integrationsdiskussion verkündet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Mitte Oktober 2010, bis zu einem Fünftel der Teilnehmenden schwänzten die Integrationskurse. Prompt legt der bayerische Ministerpräsident mit der Behauptung nach, Deutschland leide an einer Million Integrationsverweigerern.

Dabei ist die Geschichte der Integrationskurse nach vierzig Jahre währender zuwanderungspolitischer Unentschlossenheit durchaus eine Erfolgsgeschichte. Eingeführt  durch  das  Zuwanderungsgesetz,  das  am 1.1.2005 in Kraft trat, nahmen an den Integrationskursen seither deutschlandweit 600.000 Zuwander/er/innen teil, davon 78.000 in Baden-Württemberg. In den mittlerweile auf zwischen 645 und 1.245 Stunden angelegten Kursen erlernen keineswegs nur aktuell Zugewanderte (32 Prozent), sondern vor allem sog. Altzuwanderer (45 Prozent) im Wesentlichen die deutsche Sprache als zentrale Voraussetzung gelingender Integration. Lediglich 45 Stunden sind einer ersten Orientierung hinsichtlich des politischen Systems der Bundesrepublik und der deutschen Kultur gewidmet. Knapp die Hälfte derer, die an den Prüfungen teilnehmen, schließen ihren Integrationskurs erfolgreich ab, nämlich mit Deutschkenntnissen auf dem Niveau B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (GER). Weitere 37 Prozent erreichen in der vorgesehenen Zeit immerhin das Niveau A 2.

Aber zurück zu den Integrationsverweigerern. Man wüsste natürlich schon gern, ob es nun 5, 10, 15 oder volle 20 Prozent sind. Und man wüsste gern, ob diejenigen, die den Kurs aus gesundheitlichen Gründen abbrechen oder aus familiären oder aufgrund von Schwangerschaft oder, weil sie die erhoffte Arbeit gefunden haben, in den „bis zu 20 Prozent“ miterfasst sind. Denn in diesen Fällen kann ja kaum von „schwänzen“ die Rede sein und schon gar nicht von Integrationsverweigerung. Deshalb fragt man sich, ob eine Behörde der Größe des BAMF, also eine Behörde mit über 2.000 Mitarbeitenden, in ihrem ureigensten Gegenstandsbereich tatsächlich mit groben und obendrein missverständlichen Schätzungen aufwarten darf. Oder sollte eine solche Behörde in einer Zeit breiter hektischer, aufgewühlter gesellschaftlicher Diskussion nicht vielmehr zu deren Versachlichung beitragen? Zum einen durch die Ermittlung und Bekanntgabe genauer, valider Zahlen und nur solcher. Und zum anderen da- durch, dass sie an die ganz überwiegende Mehrheit der Integrationswilligen erinnert.

Andererseits macht das BAMF eben diesen Integrationswilligen das Leben auch nicht gerade leicht. Mangels ausreichender finanzieller Mittel wurden im März und im Juli 2010 folgende Neuregelungen verfügt:

  • Jene Teilnehmenden, die sich freiwillig zu einem Integrationskurs entschließen, sind mit einer Sperrfrist von drei Monaten ab dem Zeitpunkt der Zulassung belegt. Unter diesen Voraussetzungen finden sich insbesondere im ländlichen Raum nicht mehr genügend Teil- nehmende, so dass Kurse ausfallen müssen. Gerade den Bildungs- und Integrationswilligen wird damit der Zugang zu den Integrationskursen deutlich erschwert oder im ländlichen Raum gar unmöglich gemacht.
  • Teilnehmende, die nach 600 Unterrichtsstunden das Niveau A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens noch nicht erreicht haben, haben keinen Anspruch  mehr  auf  einen Wiederholungskurs von  300 Unterrichtsstunden. Es handelt sich hierbei um Personen, deren Lebensumstände es ihnen nicht ermöglicht haben, eine umfassende schulische Bildung zu erhalten. Der Integrationskurs ist für diese Menschen nicht nur ein Sprachkurs, sondern vermittelt ihnen Kenntnis- se im Sinne der Grundbildung. „Niemand darf verloren gehen“, die Bildungsmaxime der Bundesregierung, muss auch und gerade für diese Teilnehmenden gelten.
  • Die Garantievergütung für Alphabetisierungskurse wurde von 8 auf 10 Teilnehmende angehoben, was bedeutet, dass ein Kurs erst ab einer Zahl von 10 Teil- nehmenden beginnen kann. Insbesondere im ländlichen Raum müssen Interessierte deshalb nun noch länger auf den Beginn eines Alphabetisierungskurses warten. Darüber hinaus kann von einer individuellen Betreuung und Lernförderung der Teilnehmenden, die in dieser Kursart in besonderem Maße erforderlich ist, nicht mehr die Rede sein.
  • Die Zulassung von Teilzeitkursen wurde deutlich erschwert bzw. eingeschränkt. Somit haben es jene Personen, denen es aufgrund ihrer Lebensumstände nicht möglich ist, an einem Tageskurs teilzunehmen, deutlich schwerer, einen Kurs zu finden. Es handelt sich hierbei insbesondere um Berufstätige, die bereit sind, sich parallel zu ihrer Berufstätigkeit weiterzubilden.


Angesichts  solcher  Regelungen  gewinnt  der  Begriff „Integrationsverweigerung“ eine ganz neue Bedeutung: Wir müssen uns ernstlich fragen, ob wir wirklich alles Notwendige tun, um Integration zu ermöglichen.

Leicht macht es das BAMF darüber hinaus auch den Integrationskursträgern nicht, wobei in Baden-Württemberg fast die Hälfte aller Kursträger Volkshochschulen sind. Denn die Behörde setzt solche Neuregelungen zum  wiederholten  Mal  bereits  ein  bis  zwei  Wochen nach ihrer Bekanntgabe in Kraft, nimmt also keinerlei Rücksicht auf die Zeitrhythmen der Träger hinsichtlich laufender und geplanter Kurse. Ebenso wenig werden die praktischen Erfahrungen der Träger in die Entscheidungen einbezogen. Könnte sich das BAMF in diesen Hinsichten zu einer Professionalisierung seiner Arbeitsweise entschließen, könnten Hemmnisse für Neuregelungen leichter ausgeräumt, die Folgen neuer Re- gelungen weit präziser abgeschätzt und die Implementierung notwendiger Änderungen deutlich weniger bürokratisch gestaltet werden.