Digitalisierung und Weiterbildung

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor des Volkshochschulverbandes Baden-Württemberg bis Dezember 2020 

Die Digitalisierung wird unsere Gesellschaft grundlegend verändern, weil sie unsere Kommunikation grundlegend verändern wird. Die Veränderung hat bereits begonnen. Digitalisierung ist zunächst eine technische Entwicklung. Ihr Kern besteht darin, alle, auch noch so komplexe Informationen elektronisch verarbeitbar und (global) vernetzbar zu machen. Diese technische Tatsache verändert unsere Kommunikation in mindestens fünf Hinsichten:

  • Sie lässt Kommunikation als ausgesprochen unaufwändig erscheinen, als nahezu unbegrenzt möglich. Ressourcenverbrauch erzwingt keine Rechtfertigung durch „wertvolle“ Inhalte mehr. Alles wird kommunizierbar. Auch das Frühstück. Und alles wird durch alle kommunizierbar. Die Kommunikation wird „demokratisiert“. Eine neue Qualität schaffen aber auch die Verbindungs- und Vernetzungsmöglichkeiten. Die Aggregation von Informationen schafft neue Informationen, die über die ursprünglichen Informationen hinausgehen. Man denke nur an sog. Profilbildungen.
     
  • Sie wirkt entgrenzend. Ohne Grenzen sind die Wirkungen unserer Kommunikation weniger berechenbar, weniger voraussehbar. Wer eine Information, etwa eine Meinungsäußerung, wo, wann und in welchem Kontext aufnimmt, interpretiert und dann kommentiert, ist prinzipiell unkontrollierbar.
     
  • Sie wirkt emotionalisierend. Die Unvorhersehbarkeit der Empfänger/innen bedeutet auch die Unmöglichkeit, die Kommunikation auf den Empfängerhorizont einzustellen. Die Folge wird eine Zunahme von „Missverständnissen“ sein. Auch die Fülle an Kommunikation wirkt emotionalisierend: Moralische Bewertung ist weit weniger aufwändig und damit einfacher und schneller möglich, als sachliche Auseinandersetzung. Nicht zuletzt wird die Schriftlichkeit unserer Kommunikation zunehmend durch Bildlichkeit überlagert.
     
  • Sie wirkt entmaterialisierend. Der physischen Welt tritt zunehmend eine virtuelle Welt gegenüber. Seit Jahrtausenden sind wir es aber gewöhnt, uns der Verlässlichkeit des Nicht-Physischen durch den Rückgriff auf Physisches zu versichern. Die meisten Menschen gehen beispielsweise immer noch davon aus, dass der Wert von Banknoten durch die Einlagerung entsprechender Goldreserven gesichert ist. Die reale Korrespondenz begründet unser Vertrauen auf den abstrakten „Schein“. Genau an dieser realen Korrespondenz fehlt es der Virtualität indessen. Was bedeutet das für unsere Vertrauensfähigkeit?
     
  • Sie wirkt entzeitlichend. Der zunehmende Verlust der Sequenzialität der Zeit im Sinne eines geordneten Vorher/ Nachher bedeutet nicht nur den Verlust einer konsentierten Taktung des gesellschaftlichen Lebens, sondern bedeutet auch die grundsätzliche Gleichzeitigkeit aller Kommunikation. Andererseits steigert Entzeitlichung zeitliche Flexibilisierung.


Schon diese kurze Beschreibung der Wirkungen der digitalen Technik auf unsere Kommunikation belegt, dass die Technik nicht bei sich bleibt, sondern kulturelle Folgen zeitigt. Vertrauen etwa und die Fähigkeit zu dieser riskanten Vorleistung sind elementare gesellschaftliche Notwendigkeiten. Ebenso elementar sind die Bedingungen dieser Vorleistung.

Die Form der Beschreibung: Entgrenzung, Verlust an Vorhersehbarkeit, Emotionalisierung, Entmaterialisierung und Entzeitlichung, erweckt allerdings den  Anschein, die Digitalisierung der Kommunikation sei eine negative Entwicklung, ein Verfall. Der Untergang des Abendlandes soll aber gar nicht ein weiteres Mal beschworen werden. Wie jede technische Entwicklung mit weitreichenden kulturellen Folgen ist auch die  Digitalisierung an sich weder gut noch böse oder schlecht. Sie ist ambivalent, also eine Entwicklung mit Vor- und Nachteilen.

Die Form der Beschreibung ist vielmehr der Tatsache geschuldet, dass Grenzen, Vorhersehbarkeit, Sachlichkeit, Materialität und Zeitlichkeit als eine Sequenz von Schritten grundlegende Kategorien unserer Kommunikation und unserer Kultur darstellen. Dass sich die Digitalisierung diesen Kategorien nicht fügt, macht sie gesellschaftlich so grundstürzend.

Wie die Gesellschaft mit dem Fragwürdigwerden einiger ihrer (kommunikativen) Grundkategorien umgeht, ist offen. Sicher ist nur, dass sie die Frage nicht in dieser Form beantworten wird. Denn eine Gesellschaft, die sich selbst als einen Kommunikationszusammenhang ohne Spitze und Zentrum beschreibt, antwortet nicht als Gesellschaft. Sie antwortet in ihren verschiedenen Funktionssystemen.

Erste Antworten des politischen Systems liegen bereits vor. Die Emotionalisierung unserer Kommunikation hat „populistische“ Politikangebote begünstigt. Die Entmaterialisierung öffnet der Berufung auf „fake news“ Tür und Tor. An beidem arbeiten sich die bisherigen politischen Hauptakteure jetzt ab. Zunächst noch vor allem durch Ausgrenzung des Neuen, des Anderen.

Für das Rechtssystem hat man prognostiziert, die Digitalisierung mache das Recht unscharf (Boehme-Neßler, Unscharfes Recht, 2008, S.662) und verringere die  Genauigkeit rechtlicher Steuerung. Ob diese Prognose zutrifft, darf bezweifelt werden. Statt mit Anpassung könnte das Rechtssystem auch mit Widerstand reagieren. Gerade weil die Verhältnisse subjektiver, fließender und situationsbezogener bzw. fallbezogener, eben: digitaler, werden, könnte das Recht die Trennschärfe seiner Recht-/Unrecht-Unterscheidung auch steigern: beispielsweise die rechtlichen Grenzen der Privatsphäre betonen oder den Verlust an Vertrauen und Vertrauensfähigkeit durch den Ausbau des rechtlichen Vertrauensschutzes kompensieren.

Von besonderem Interesse sollen hier die Antwortmöglichkeiten des Bildungssystems sein. Auf den ersten Blick stehen die kommunikativen Folgen der Digitalisierung zur gesellschaftlichen Funktion des Bildungssystems: Veränderung von Personen, in deutlich entspannterem Verhältnis als zu den Funktionen von Politik: Herstellen kollektiv bindender Entscheidungen, und Recht: Erzeugen von Sicherheit für nichtselbstverständliche Verhaltenserwartungen. Und das nicht nur, weil man von dem primär kognitiv, auf Lern- und Änderungsbereitschaft orientierten Bildungssystem  größere Offenheit für Neues erwarten darf, sondern auch, weil politische und rechtliche Kommunikationen weit mehr auf Voraussehbarkeit, Übersicht und eine geordnete Zeitlichkeit angewiesen sind.

Diese Einschätzung ändert sich aber sofort, nimmt man die Organisation der genannten Funktionen in den Blick. Das konstituierende Element jeder (formalen) Organisation ist die Unterscheidung, die Unterscheidung von innen und außen, die Unterscheidung verschiedener Hierarchieebenen, unterschiedlicher Zuständigkeiten usw. Unterscheidungen ziehen eine Grenze, die zwei Seiten trennt. Auch wenn die Grenze beide Seiten auch aufeinander bezieht, ist Organisation ziemlich genau das Gegenteil von entgrenzender Vernetzung.

Für die organisierte, institutionelle Bildung, für Schulen, Betriebe, Hochschulen und im Falle der Weiterbildung etwa für Volkshochschulen ist die Digitalisierung deshalb eine erstrangige Herausforderung (siehe „Strategie der KMK <Bildung in der digitalen Welt>“, 2017). Diese Einschätzung deckt sich mit bisherigen Erfahrungen. Der „Monitor Digitale Bildung“ (Schmid/Goertz/Behrens, Die Weiterbildung im digitalen Zeitalter, 2018, S.6) stellt fest: „Digitales Lernen in der Weiterbildung findet überwiegend informell und selbstorganisiert statt“, also situativ, anlassbezogen, handlungsorientiert und selbstgesteuert. Demgegenüber ist Lernen in Institutionen reflexionsorientiert, umfänglich und auf Themen bezogen.

Andererseits setzt selbstorganisiertes digitales Lernen erfahrungsgemäß voraus, dass man das Lernen überhaupt und speziell das digitale Lernen – unter Anleitung – bereits gelernt hat. Deshalb kann es nicht verwundern, dass Menschen mit geringerer formaler Bildung und Nichtberufstätige deutlich seltener digital lernen als Erwerbstätige und Akademiker, nämlich nur zu 32 bzw. 28 Prozent im Vergleich zu 59 Prozent (aaO.). Die digitalen Lernmöglichkeiten treffen auf eine in Sachen Bildung gespaltene Gesellschaft: Bildung führt zu mehr (Weiter-)Bildung, weniger Bildung zu weniger (Weiter-)Bildung. Sie werden diese vorhandene „Bildungsspaltung“ verhärten und vertiefen, wenn es nicht gelingt, durch soziales Lernen, durch Lernen in der Gruppe unter Anleitung die – digitale – Lernfähigkeit zu verbreiten. Genau das ist die Aufgabe der Volkshochschulen: als Orte physischer Begegnung und des sozialen Lernens der Allgemeinheit das Lernen des Lernens, einschließlich seiner digitalen Erweiterungen, näher zu bringen. Nicht die „durchdigitalisierte“ Volkshochschule ist deshalb das Ziel, sondern die „analogitale“.

Hinzu kommt indessen noch eine zweite Aufgabe. Neben der Vermittlung der digitalen Technik und ihrer Anwendung und Nutzung muss die Reflexion der beschriebenen, durch sie ausgelösten kulturellen Veränderungen treten. Der Umgang mit diesen Veränderungen muss Teil der Allgemeinbildung, nicht zuletzt Teil der politischen Bildung der Allgemeinheit werden. Denn eine der ganz zentralen Folgen der Digitalisierung sind erhöhte Anforderungen an die Urteilskraft des Einzelnen. Wesentliche Fragen dieser Allgemeinbildung sind etwa: Wie kann in der digitalen Welt die informationelle Selbstbestimmung gewahrt werden? Wie kann der Emotionalisierung („Populismus“) und Entmaterialisierung („fake news“) der politischen Kommunikation entgegen gewirkt werden? Die Folge von Unaufwändigkeit, Entgrenzung und Entzeitlichung ist ein rasanter Anstieg der gesellschaftlichen und individuellen Kommunikation. Wie schützen wir uns vor der Überlastung mit Kommunikation? Wie ist die Krise unserer Vertrauensfähigkeit zu überwinden – ohne weiter den Weg einer hysterischen Gesellschaft zu gehen?