(Über) 100 Jahre Volkshochschule

(Über) 100 Jahre Volkshochschule

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor des Volkshochschulverbandes Baden-Württemberg bis Dezember 2020 

I. Weimarer Republik oder Kaiserreich?

Institutionell sollen die Volkshochschulen in der ersten deutschen Demokratie ins Leben getreten sein. Tatsäch lich liest man in der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919: „Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden.“ Dieser dürre Satz und seine Stellung im 4. Absatz des Art. 148 geben die zentrale Rolle, die die Verfassung dem Volksbildungswesen zudachte, allerdings nicht annähernd wieder.

Die Weimarer Verfassung, gerichtet auf gesellschaftlichen Fortschritt, Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie, Wohlstand sowie kulturelle und nationale Einheit, spürte ihre Entfernung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Überwindung ihrer Abständigkeit erhoffte sie sich nicht zuletzt von der Bildungsleistung der Bevölkerung. Deshalb nahm sie jeden einzelnen mit Art. 163 Abs.1 in die moralische Pflicht: „Jeder Deutsche hat unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert.“ Und deshalb war ihr die Förderung des Volksbildungswesens, einschließlich der Volkshochschulen so wichtig: Die Volksbildung sollte die zu dieser Verfassung fähige, passende Bevölkerung schaffen.

Gleichwohl stellt Hermann Heller 1921 fest: „Die Volkshochschule ist noch nicht, sie entwickelt sich erst.“ (1) Das freie deutsche Volksbildungswesen sei erst 50 Jahre alt, seine Anfänge fielen in die Zeit der Reichsgründung und würden markiert durch die Gründung der „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“. (2) Deren Konzept, eine „neutrale“ Bildung zu verbreiten, „in der alle politischen, wirtschaftlichen und religiösen Streitfragen ausge schaltet“ seien, findet dabei Hellers heftigen Widerspruch: „Dieser, fern von allen Kämpfen der Gesellschaft und lebensgestaltenden Kräften des Geistes, sozusagen in der kalten Retorte hergestellten Bildung blieb das vermeinte Volk, die Arbeiterschaft, klugerweise fern. Bedeutet doch alle wahre Bildung nur ein Herausbilden geistiger Fähigkeiten aus den vorhandenen wirtschaftlich-sozialen und persönlichen Voraussetzungen des Individuums, niemals aber ein Hineinstopfen von Kenntnissen, die zu seinem seelischen und gesellschaftlichen Leben keine Beziehungen haben.“(3) Ob seiner offensichtlichen Parteilichkeit entgeht Heller das integrative Moment einer sachbezogenen, religiös und weltanschaulich neutralen Volksbildung.

Aber unabhängig davon, ob man die institutionelle Geschichte der Volkshochschulen vor 100 oder vor 150 Jahren beginnen lässt, die Notwendigkeit einer Bildungseinrichtung, die allen alle Inhalte zur Verfügung stellt, ergibt sich spätestens mit der Aufklärung.

 

II. Aufklärung

Theoretisch-soziologisch betrachtet beschreiben Aufklärung und Französische Revolution die Umstellung der Grundorientierung der Gesellschaft. Die mittelalterliche Gesellschaft war – nach den Vorgaben Gottes und der von ihm geschaffenen Natur – nach hierarchisch geordneten Schichten gegliedert (stratifikatorische Differenzierung). Die moderne Gesellschaft gliedert sich nach der spezialisierten Bearbeitung eines Bezugsproblems: Die Zukunftssicherung im Hinblick auf knappe Güter ist die Aufgabe der Wirtschaft, das Erzeugen von Sicherheit für nichtselbstverständliche Verhaltenserwartungen ist die Aufgabe des Rechts, das Herstellen kollektiv bindender Entscheidungen ist die Aufgabe der Politik usw. (funktionale Differenzierung).

Die Überwindung der vorgegebenen alten Ordnung zugunsten einer von den Menschen selbst durch Entscheidung zu ordnenden Welt bedeutet in zeitlicher Perspektive, dass man die gesellschaftliche Orientierung nicht mehr in der prinzipiell bekannten Vergangenheit suchen kann, sondern in einer ungewissen, offenen Zukunft finden muss: der künftige Nutzen entscheidet über die Entscheidung.

In sachlicher, inhaltlicher Hinsicht bedeutet die Ungewissheit der Zukunft in der modernen Gesellschaft, dass man nicht mehr wissen kann, welche Fähigkeiten künftig gefragt sein werden. Deshalb muss sich Bildung auf die Möglichkeit aller Inhalte richten, also auf Lernfähigkeit und damit auf Veränderungsfähigkeit. Das ist zugleich der Grundgedanke des lebenslangen, besser: lebensbegleitenden Lernens: Nur die kontinuierlich lernende Gesellschaft begründet die gesellschaftliche Hoffnung, für die ungewisse Zukunft gerüstet zu sein.

Und weil in der modernen Gesellschaft – ganz anders als in der alten Ordnung – sozial alle gleich sind, geht es um Bildung für alle und um lebensbegleitendes Lernen von allen.

Sachliche und soziale Generalisierung: „alle Inhalte für alle“ – das ist die theoretische Idee der Volkshochschule.

Praktisch-politisch betrachtet stehen Aufklärung und Französische Revolution für die Emanzipation des Subjekts. Das ist der Sinn von Kants Version des Wahlspruchs der Aufklärung: „Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines Verstandes zu bedienen!“

Ermöglicht wird diese Emanzipation durch Bildung, indem sie – individuell – zu einem selbstbestimmten Leben und – sozial – zur Mitgestaltung einer solidarischen Demokratie befähigt. Deshalb findet sich gleich auf den ersten Seiten der „vhs-Bibel“ von 2011 die Feststellung: „Ihren Bildungsauftrag leiten die Volkshochschulen aus den Prinzipien der Aufklärung und den universalen Menschenrechten ab.“ (4)

Bildung für ein selbstbestimmtes Leben in einer mitgestalteten solidarischen Demokratie – das ist die praktische Idee der Volkshochschule.

Beide Varianten verknüpfen die Volkshochschule aufs Engste mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft. Deshalb kann es nicht verwundern, dass die Volkshochschule von der Gesellschaft bzw. von Teilen der Gesellschaft immer wieder in Dienst genommen werden sollte:

Der NS-Staat schaltet die Volkshochschulen gleich und begreift Volksbildung wesentlich als Instrument zur Verbreitung der nationalsozialistischen Weltanschauung und zur Stärkung des Willens zur sog. völkischen Selbstbehauptung.

Die politische Indienstnahme der Volkshochschule, jetzt aber (wieder) zugunsten der Demokratie („Re-Education“) wiederholt sich nach dem Zweiten Welt krieg im Einflussbereich der westlichen Siegermächte. In der Sowjetischen Besatzungszone ist die Volks bildung auf den Aufbau der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft gerichtet.

Auf die Versuche, die Volkshochschule politisch zu nutzen, folgen in den 1970er Jahren ökonomische Zwecksetzungen und die Aufgabenzuschreibung, die Veränderungen in der Arbeitswelt zu unterstützen.

 

III. Ort der Reflexion

Solche mehr oder weniger willkommenen Versuche insbesondere der politischen und der wirtschaftlichen Instrumentalisierung blieben indessen nie ganz unwidersprochen. Der Widerspruch der Volkshochschulen, auch gegen ein wesentlich so verstandenes Lebensbegleitendes Lernen, gründete stets in ihrem Verständnis von Bildung als zweckfrei und ganzheitlich, also als Bildung, die alle Facetten des Menschen berücksichtigt und anspricht – insofern ganzheitlich – und als Bildung, die sich nicht unmittel barer Verwendbarkeit, also keiner Verzweckung, fügt.

Mit diesem Verständnis von Bildung, einer Variation des Humboldtschen Bildungsbegriffs, hält die mit deren Entwicklung aufs Engste verbundene Volkshochschule der modernen Gesellschaft zugleich den Spiegel vor. Denn Zweckfreiheit konterkariert Funktionalität und Ganzheitlichkeit konterkariert Differenzierung. Reflexion durch Gegenbegrifflichkeit.

Ihre Vitalität nach (über) 100 Jahren verdankt die Volkshochschule also nicht nur ihrer Leistung, die Schule der Veränderungsfähigkeit für die Allgemeinheit zu sein, sondern auch der Tatsache, dass sie sich als ein Ort des Nachdenkens der Allgemeinheit über unsere Gesellschaft begreift.

 

Quellen:

1 Hermann Heller, Volkshochschulen, in: Martin Drath/Christoph Müller (Hrsg.), Hermann Heller. Gesammelte Schriften, 1. Band Orientierung und Entscheidung, 1971, S.611.

2 Günther Wolgast, Zeittafel zur Geschichte der Erwachsenenbildung, 1996, S.25 f., 123. Die Gründung der Gesellschaft erfolgte am 14. Juli 1871.

3 Heller (FN 1).

4 Deutscher Volkshochschulverband (dvv) (Hrsg.), Die Volkshochschule – Bildung in öffentlicher Verantwortung, S.10. Ebenso Rolf Arnold, Erwachsenenbildung, 1996, S.10 f.