Was fehlte, gäbe es die Volkshochschule nicht?

Was fehlte, gäbe es die Volkshochschule nicht?

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor des Volkshochschulverbandes Baden-Württemberg bis Dezember 2020 

 

I. Selbstverständlichkeitsfalle

Die Volkshochschule ist eine Selbstverständlichkeit. Sie ist so fraglos – flächendeckend – vorhanden und funktioniert so geräuschlos, dass sie der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit häufig entgeht. Keine oder geringe öffentliche Aufmerksamkeit macht es einer Einrichtung aber sehr schwer, selbst die berechtigten Interessen ihrer Nutzerinnen und Nutzer und schon gar ihre eigenen (berechtigten) Interessen durchzusetzen. Selbstverständlichkeit kann eine Institution zum Verschwinden bringen. Selbstverständlichkeitsfalle nennt man das.

 

II. Marketingaktion

Um dieser Selbstverständlichkeitsfalle zu entgehen, fragt der baden-württembergische Volkshochschulverband gegenwärtig Politik und Öffentlichkeit, die Bevölkerung und alle vhs-Teilnehmenden, Kursleitenden und Mitarbeitenden, was genau unserer Gesellschaft fehlte, gäbe es die Volkshochschule nicht.

Die nach Einschätzung einer Jury treffendsten und originellsten Antworten finden Sie auf der Website des Verbandes: https://www.vhs-bw.de/.

Die Frage, was der Gesellschaft fehlte, gäbe es die Volkshochschule nicht, ist aber nicht nur ein geeigneter Anknüpfungspunkt für eine Marketingaktion. Man kann sie auch sehr prinzipiell verstehen.

 

III. Aufklärung

Eines der ganz zentralen politischen Ergebnisse der Aufklärung findet sich gleich in Art. 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung vom 26. August 1789: „Die Menschen / Männer werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im Allgemeinen Nutzen begründet sein.“

Die beiden Sätze richten sich 1 zu 1 gegen die alte hierarchische ständische Ordnung, in der die Menschen in unterschiedlichen Schichten „aufgehoben“ waren und die gesellschaftlichen Unterschiede ihre Begründung in der Natur und damit in Gott fanden. Beschreibend verstanden kündet Art. 1 der Erklärung damit von der Umstellung der Gesellschaft von primär stratifikatorischer, schichtbezogener auf primär funktionale Differenzierung. (1) An die Stelle Gottes ist das Gemeinwohl im Sinne der Nützlichkeit getreten, an die Stelle des Glaubens an die göttliche Ordnung die aufgeklärte menschliche Vernunft.

Erst durch diese Umstellung wird Erwachsenenbildung, ja Bildung überhaupt denkbar, möglich und notwendig. Denn (Erwachsenen-)Bildung antwortet auf die Frage, „was der Mensch sein bzw. werden soll.“ (2) In der ständischen Ordnung war diese Frage keine Frage, weil sie jedem seinen Platz in der Welt zuwies: dem Sohn des Bauern als Bauer, dem Sohn des Handwerkers als Handwerker, dem Sohn des Kaufmanns als Kaufmann und dem Prinzen als Fürst. Erziehung konnte an diesem Platz grundsätzlich nichts ändern. Sie konnte aus dem Sohn des Handwerkers keinen Adeligen machen. Allenfalls einen perfekteren Handwerker.

Das Ende dieser ständischen Ordnung leiteten drei Prinzipien der Reformation ein, nämlich das allgemeine Priestertum, also die Gleichheit aller Christen, das solascriptura- und das sola-fide-Prinzip: Wenn es Wahrheit nur in der Schrift gibt, muss diese dem ganzen Volk zugänglich werden, damit alle die Gnade Gottes erlangen können. Damit waren – in der Fernwirkung noch unbemerkt – Kopf und Hals der alten Ordnung getrennt. Aufklärung und Französische Revolution haben die Exekution gut 250 Jahre später – gleichsam durch ein Nicken – nur noch vollendet.

Die Umstellung der primären gesellschaftlichen Differenzierungsform auf Funktion, also auf die spezialisierte Bearbeitung eines gesellschaftlichen Bezugsproblems wie etwa die Zukunftssicherung im Hinblick auf knappe Güter durch die Wirtschaft oder das Erzeugen von Sicherheit für nichtselbstverständliche Verhaltenserwartungen durch das Recht oder das Herstellen kollektiv bindender Entscheidungen durch die Politik, reagierte auf gestiegene gesellschaftliche Komplexität und steigerte ihrerseits die gesellschaftlichen Möglichkeiten. Nachdem die alten Gewissheiten ausgetrieben waren, war jetzt alles auch anders möglich: Was der Mensch sein bzw. werden soll, ist nicht mehr als Natur vorgegeben, sondern eine Frage der Entscheidung.

Die modernste Antwort lieferte der Neuhumanismus, insbesondere Wilhelm von Humboldt mit seiner Unterscheidung von Mensch und Welt und Bildung als veredelndes Streben des Menschen, „so viel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.“ (3): Bildung als Aneignung von Welt (4), als „Vervollkommnung des Menschen durch die Anverwandlung von Welt“ (5).

Es mag schwer vorstellbar sein, wie sich die innere Unendlichkeit des Subjekts auf die äußere Unendlichkeit der Welt beziehen kann. (6) Dieser Bildungsbegriff erfüllt indessen zwei notwendige Funktionen. Er löst biographische Bestimmtheit ebenso auf wie die immer schon bekannte Welt. Und er stellt den Menschen – damit – auf eine unbestimmte Zukunft ein. Sachlich muss sich der Bildungsbegriff von spezifischen Inhalten und schon gar deren Kanonisierung lösen, damit das Ziel der Bildung wegen der Ungewissheit der (gegenwärtigen) Zukunft auf das Lernen des Lernens, also auf Änderungsbereitschaft umgestellt werden kann.

Denn wenn Gott und die Natur die Ordnung der Welt nicht mehr vorgeben, diese Ordnung dem Menschen vielmehr aufgegeben ist, muss die normative Grundorientierung einer kognitiven weichen. Man kann nicht mehr primär – auch kontrafaktisch – an seinen gewohnten Erwartungen festhalten, sondern ist gehalten, sich primär lern- und anpassungsbereit auf das kommende Unbekannte einzulassen.

Diese Herausforderung in der Zeitdimension konzentriert sich dabei keineswegs auf eine der Idee nach nicht mehr vorhandene Oberschicht. Sie richtet sich an alle Gleichen, also an jeden einzelnen Menschen.

„Aufklärung“ beschreibt also die Umstellung von stratifikatorischer auf funktionale gesellschaftliche Primärdifferenzierung. Aus naturgebundener Erziehung wird Bildung als eine Frage der Entscheidung, was der Mensch sein bzw. werden soll. „Entscheidung“ verweist auf Nutzen in einer ungewissen Zukunft.

Die Ungewissheit der Zukunft in der modernen Gesellschaft erfordert die sachliche, die inhaltliche Unbestimmtheit von Bildung, mithin die Möglichkeit aller Inhalte. Weil man nicht wissen kann, was gefragt sein wird, ist es sinnvoll, auf Lern- und damit auf Anpassungsfähigkeit zu setzen. Und in Richtung Generalisierung verändert sich auch der Adressatenkreis: Weil alle gleich sind, geht es um Bildung für alle.

 

IV. Volkshochschule: alle Inhalte für alle

Das Bezugsproblem der Erwachsenenbildung bzw. der (allgemeinen) Weiterbildung und damit der Volkshochschule ist also die Ungewissheit der Zukunft. Ihretwegen müssen die Volkshochschulen im Prinzip jederzeit in der Lage sein, alle Inhalte anzubieten. (7) Wer aber alle Inhalte anbieten können muss, darf selbst gar keine Inhalte anbieten, sondern muss sie durch Dritte, durch Dozierende, anbieten lassen. Die Aufgabe liegt dann nicht in der Wissensvermittlung.  Sie liegt vielmehr in der Bereitstellung von Wissensvermittlung. Nicht um Bildung geht es, sondern um Bildungsmanagement. Die Spezialität der Volkshochschule ist angesichts der Generalität der  Inhalte,

  • ein Gespür zu entwickeln für aktuelle und kommende Themen in ihrem kommunalen  Kontext,
  • die fachliche und andragogische Eignung von Kursleitenden zu beurteilen und
  • die passenden räumlichen, zeitlichen und  sonstigen Rahmenbedingungen für Bildung zu schaffen, einschließlich der Wahl des  richtigen Formats der Veranstaltung und der wirkungsvollen Ansprache der Zielgruppe.

Die zweite Strukturbedingung der Volkshochschule neben der Unbegrenztheit der Inhalte ist die Unbegrenztheit der Teilnehmenden. Weil alle gleich sind, kommt eine Auslese, gar durch die Volkshochschule selbst, nicht in Betracht. Das ist der Grund der Freiwilligkeit der Teilnahme. Freiwilligkeit heißt Selbstauslese.

Für die Volkshochschule bedeutet Selbstauslese,  dass sie sich um die Motive der Teilnehmenden nicht kümmern muss. Ob die Teilnahme etwa der beruflichen Karriere nützen soll oder der verantwortlichen Partizipation an der sozialen Demokratie oder der Selbstoptimierung oder dem einfachen Wunsch geschuldet ist, auf dem Laufenden zu bleiben, ist für  die Einrichtung ebenso irrelevant wie unerkennbar.

Zumindest abstrakt „alle“ zu erreichen, schafft eine Institution allerdings nur, wenn sie ausschließen kann, dass die Teilnahme diskriminierend wirkt. So darf die Teilnahme an einer weiterbildnerischen Maßnahme nicht die Erklärung implizieren, die Erwachsenenbildung wegen früherer Versäumnisse nötig zu haben. Also darf es keine bevorzugten Lebensalter für Bildung und Weiterbildung (mehr) geben. Lernen muss lebenslang angezeigt und selbstverständlich sein, ohne dass je ein Endzustand erreicht werden könnte. Das ist der Sinn der gesellschaftlichen Grunderwartung lebensbegleitenden Lernens, dessen Zweck dann freilich nur noch das Trainieren von Veränderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit sein kann.

So gesehen ist die Volkshochschule nicht weniger als eine notwendige Folge der Umstellung der gesellschaftlichen Primärdifferenzierung auf Funktionen und des damit verbundenen Ungewisswerdens der Zukunft. Vor dem Hintergrund dieses engen Zusammenhangs ist die Einschätzung Gerd Roelleckes zu verstehen: „Wenn Modernisierung für das Individuum die Auseinandersetzung mit den Sachen ohne Rücksicht auf Rang und Würde ist, und für die Gesellschaft die Orientierung an Funktionen, an immer besseren Problemlösungen, an der Einstellung auf das Ungewisse, dann sind die Volkshochschulen die modernsten Bildungseinrichtungen, die wir haben.“ (8)

 

V. Der Bildungsbegriff der Volkshochschule

Dieses Lob verdankt die Volkshochschule ihrem Bildungsprogramm „Alle Inhalte für alle“. Aus der Sicht der Gesellschaft lautet die entscheidende Frage also, welche spezifische Funktion dieses Bildungsprogramm erfüllt.

Nach dem Gesagten fällt die Antwort leicht. Das Bildungsprogramm „Alle Inhalte für alle“ ist die allerdings wenig prestigeträchtige Fassung des Humboldtschen Bildungsbegriffs, der die innere Unendlichkeit des Subjekts auf die äußere Unendlichkeit der Welt bezieht (siehe III.). Die Volkshochschule thematisiert diesen Bildungsbegriff – viel zu zurückhaltend – als zweckfreie, ganzheitliche Bildung. Also als Bildung, die alle Facetten des Menschen berücksichtigt und anspricht – insofern ganzheitlich – und als Bildung, die sich nicht unmittelbarer Verwendbarkeit, also keiner Verzweckung, fügt.

Viel zu zurückhaltend geschieht die Inbezugnahme dieses Bildungsbegriffs, weil sein Potential bei weitem nicht ausgeschöpft wird. Denn genau genommen verweist „Zweckfreiheit“ über alle Inhalte hinaus auf die Steigerung der Lernfähigkeit. Die Steigerung der Lernfähigkeit mündet aber in die Haltung, Neuem mit der anhaltenden Bereitschaft zu begegnen, gelernte Erwartungsmuster zu ändern. Die Verbreitung dieses kognitiven Erwartungsstils („Anpassung“) ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Selbstverständlicher ist gerade angesichts der Offenheit, ja Ungewissheit der (gegenwärtigen) Zukunft die Verbreitung der normativen Grundhaltung, an den einmal erlernten Mustern – auch kontrafaktisch – festzuhalten („Widerstand“).

Und „Ganzheitlichkeit“ verweist darauf, dass der Mensch nicht hinreichend erfasst ist, begreift man ihn nur als Umwelt der gesellschaftlichen Funktionssysteme. Natürlich steckt genau darin eine elementare Freiheitsgarantie. Aber als Subjekte fragen Menschen eben auch nach ihrer Identität, zumindest nach der widerspruchsfreien Einheit ihrer zahlreichen Rollen.

Beide Begriffe, Zweckfreiheit wie Ganzheitlichkeit, eignen sich also in besonderer Weise als Reflexionsbegriffe der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft. Sie halten ihr in ihrer Gegenbegrifflichkeit den Spiegel vor: funktional – zweckfrei, differenziert – ganzheitlich.

Die Tatsache, dass die Volkshochschulen – diese gegenbegriffliche Bildung praktizierend – Veränderungsbereitschaft auch bei jenen schaffen, die sich nicht auf andere funktionale Weise, etwa durch betriebliche oder berufliche Weiterbildung, auf die Ungewissheit der Zukunft einstellen, erhellt das paradoxe Erscheinungsbild der Institution als anachronistisch und vital zugleich. Dieses Erscheinungsbild zwingt indessen nicht zur Sorge um die Zukunft der Volkshochschule: Denn als subsidiäre Schule der Veränderungsbereitschaft und zugleich als Ort der Reflexion, des Nachdenkens der Allgemeinheit über Wirkungen und Folgen funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung zeichnet sich Ersatz für sie nicht ab.

 

VI. Was also fehlte, gäbe es die Volkshochschule nicht?

Gäbe es die Volkshochschule nicht, fehlten alle Inhalte für alle.

Gäbe es die Volkshochschule nicht, fehlte eine Schule der Veränderungsbereitschaft.

Gäbe es die Volkshochschule nicht, fehlte ein Ort des Nachdenkens der Allgemeinheit über unsere Gesellschaft.

 

Quellen:

  1. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997,  2. Teilband S.743 ff.
  2. Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft,  hrsg. von Dieter Lenzen, 2002, S.186.
  3. Wilhelm von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, in: Gerhard Lauer (Hrsg.), Wilhelm von Humboldt – Schriften zur Bildung, 2017, S.6.
  4. Luhmann (FN 2), S.188.
  5. Gerd Roellecke, Weiterbildung zwischen Gemeinwohl und Karriere, in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft 2000, S.1100 (1103).
  6. Humboldt (FN 3), S.7 und Luhmann (FN 2), S.190 f.
  7. Roellecke (FN 5), S.1107, der das Bezugsproblem der Weiter bildung (S.1106) allerdings in der Steigerung der Problemlösungskapazität der Gesellschaft sieht.
  8.  (FN 5), S.1110.