Integration wodurch?

Integration wodurch?

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor des Volkshochschulverbandes Baden-Württemberg bis Dezember 2020 

 

I. Integration und Inklusion

Integration – das ist ein positiver Begriff, der einen positiven Zustand beschreibt. Die Lage ist entspannt, man kommt gut miteinander aus und blickt optimistisch in die Zukunft. In aller Regel sprechen wir über die Integration von Zugewanderten und Flüchtlingen, also von – zunächst – fremden Menschen. Aber auch die einheimische Bevölkerung bedarf der kontinuierlichen Integration zu einer gesellschaftlichen Einheit. Diese Anstrengung läuft zwar häufig unter der Überschrift „soziale Inklusion“, richtet sich aber auf das gleiche Ziel. Es geht darum, dazu zu gehören, es geht darum, trotz aller Unterschiedlichkeit friedlich zusammen zu leben, es geht um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Andererseits kann von einer integrierten Einheit nur die Rede sein, wenn in ihr eben nicht mehr alles möglich ist. So gesehen bedeutet Integration also wesentlich die Einschränkung von Möglichkeiten: Identität durch Beschränkung. Deshalb kann eine Einheit, etwa eine Gesellschaft, auch überintegriert sein. Nämlich dann, wenn sie zu wenig zulässt und zu viel ausschließt.

II. Integration durch Werte?

Es gilt als ausgemachte Sache, dass das probate Mittel zur individuellen sowie gesellschaftlichen Orientierung und zu einem friedlichen Miteinander ein Fundament geteilter Grundwerte ist. Dazu sollen etwa Freiheit und Gerechtigkeit, Respekt und Anerkennung, Toleranz und Offenheit, Friedfertigkeit und Menschlichkeit gehören. Werte fungieren hier sowohl als Kriterien zum Einschluss zustimmender Positionen als auch zum Ausschluss gegenteiliger, ihnen widersprechender Möglichkeiten – und erscheinen zugleich unwidersprechlich. Wer könnte gegen Freiheit, Gerechtigkeit, Respekt, Anerkennung, Toleranz, Offenheit, Friedfertigkeit oder gar Menschlichkeit sein? Als Selektionskriterien für den Ausschluss von Möglichkeiten, also als Integrationsmedien und als eindeutige Orientierungsspender funktionieren Werte indessen nur in sehr weiter Entfernung von handelnder und entscheidender Praxis. Hohe und höchste Abstraktion schützt sie vor Widerspruch. Je näher Werte der Praxis kommen, desto mehr geraten sie in die Widersprüche konkreter Fälle und Fragen. Etwa: Ist eine Abtreibung nach einer Vergewaltigung menschlich oder unmenschlich? Oder: Gilt Freiheit auch für die Feinde der Freiheit? Oder: Ist Friedfertigkeit auch gegenüber Gewalt geboten?

Belastungssituationen stiften Werte dann nicht nur keinen Konsens, sondern heizen den Konflikt sogar an, weil beide Seiten in ihrem Namen gegeneinander kämpfen.

Unter neuzeitlichen Bedingungen und in (werte) pluralistischen Gesellschaften wie der unseren kommt noch ein weiteres Erschwernis hinzu: die konkurrierenden Universalitätsansprüche der einzelnen Werte. Freiheit, Gerechtigkeit, Respekt, Anerkennung, Toleranz, Offenheit, Friedfertigkeit und Menschlichkeit wollen immer und überall gelten. Das führt vor schwierige Wertrang-Fragen, ja geradezu in Paradoxien. Freiheit ohne Existenzsicherung kann unmenschlich sein, Gerechtigkeit kann das Ende der Friedfertigkeit erfordern. Und höchstes Recht kann größte Ungerechtigkeit bedeuten.

III. Integration durch Leitkultur?

Ein ähnliches Schicksal wie Werte beim Wirklichkeitskontakt erlebten die Thesen des Bundesinnenministers Thomas de Maizière zur „Leitkultur für Deutschland“ vom 1.5.2017 (https://vhs.link/3WmBZ2). Mit ihrer Konkretisierung geriet die Leitkultur in Streit. Erwarten wir wirklich alle, wie der Minister meint, dass diejenigen, die zu uns gekommen sind und hier eine Bleibeperspektive haben (wollen), bei Begrüßungen artig die Hand geben und generell „Gesicht zeigen“ sowie immer schön leistungsorientiert denken und handeln? Und dass sie sich, wie er ebenfalls meint, eines „aufgeklärten Patriotismus“ befleißigen? Konkretisieren wir die diesen Einschätzungen zugrunde liegenden Werte wirklich alle in derselben Weise mit demselben Ergebnis?

Wäre es so, wäre es eine faustdicke Überraschung. Denn eine pluralistische Gesellschaft beschreibt sich deshalb als pluralistisch, weil sie mit allen gemeinsamen Werten gerade nicht rechnet. Und noch weniger glaubt sie an allen gemeinsame, verbindende Wertkonkretisierungen.

Genau deshalb konstituiert das Grundgesetz die bundesrepublikanische Gesellschaft dadurch als pluralistische Gesellschaft, dass sie den ihr korrespondierenden Staat als Rechtsstaat, nämlich als „Staat der Nichtidentifikation“ konstituiert. Dabei ist ein Staat der Nichtidentifikation ein Staat, der sich mit keiner Weltanschauung und keiner Religion identifiziert, sondern stattdessen über Recht definiert. Das Gemeinwesen des Grundgesetzes ist ein pluralistischer Rechtsstaat.

IV. Integration durch Recht

Ein pluralistischer Rechtsstaat identifiziert sich aber nicht nur selbst nicht mit einer bestimmten Weltanschauung oder Religion, er verlangt auch von seinen Bürgerinnen und Bürgern und von seinen Einwohnerinnen und Einwohnern keine Identifikation mit einer bestimmten Religion oder einer bestimmten Weltanschauung. Er verlangt noch nicht einmal die Identifikation mit seinem – ohnehin weitgehend entmoralisierten – Recht. Er verlangt lediglich die Anerkennung seines Rechts, also die Übernahme seines Rechts als Voraussetzung eigenen Erlebens und Handelns.

Geboten ist demnach nur die Einhaltung der geltenden Rechtsnormen, von den Feiertagsgesetzen über das Strafrecht bis hin zum Grundgesetz.

Diese verfassungsrechtliche Beschränkung auf die Einhaltung des Rechts dürfen wir nicht mithilfe einer sog. Leitkultur unterlaufen. Die aufnehmende Gesellschaft darf zur Integration nicht beliebig viel erwarten, also beliebig viele Möglichkeiten ausschließen. Der ja belastende Ausschluss von Möglichkeiten bedarf vielmehr ausdrücklicher Rechtfertigung. Und solche Rechtfertigung liefert in einem Rechtsstaat ausschließlich das Recht.

Mehr als die Wahrung unseres Rechts in diesem Sinne können wir legitimer und konsequenter Weise auch zur Integration der zu uns kommenden Menschen nicht verbindlich erwarten. Aber alleine die Anerkennung des Grundgesetzes bedeutet ja schon die verbindliche Anerkennung des demokratischen Rechtsstaats, einschließlich des Gewaltmonopols des Staates und – trotz christlicher Prägung – die Anerkennung des Vorrangs des Rechts vor allen religiösen Regeln, außerdem die verbindliche Anerkennung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie anderer verfassungsrechtlicher Regeln.

Was uns über das im Grundgesetz schriftlich Fixierte hinaus noch ausmachen soll, etwa, wie der Bundesinnenminister meint: „Wir sind nicht Burka.“ oder „Wir sind Kulturnation.“ (aber offenbar ohne kultivierte Sprache), unterliegt dem pluralistischen gesellschaftlichen Diskurs und eignet sich schon deshalb nicht als verbindliche Integrationsbedingung, ist aber auch – nach unseren eigenen verfassungsrechtlichen Maßstäben – keine legitime Voraussetzung der Integration.

V. Integration durch Bildung

Allerdings ist das Zusammenleben in einem pluralistischen Rechtsstaat konfliktfreier und deutlich leichter möglich, wenn man das entsakralisierte Weltverhältnis einer pluralistischen Gesellschaft versteht. Dazu muss man über die Fähigkeit verfügen, die grundlegenden gesellschaftlichen Differenzen erkennen, thematisieren und vor allem: aushalten zu können. Andererseits aber auch in der Lage sein, die diese Differenzen übergreifenden Strukturen und Kooperationsmöglichkeiten wahrnehmen und nutzen zu können.

Deshalb vermag Bildung Integration ganz erheblich zu erleichtern. Aber nicht nur auf Seiten der Ankommenden, sondern gerade auch auf Seiten der aufnehmenden Gesellschaft. Sie bedarf vor allem der inter kulturellen Bildung. Um sich unter veränderten Bedingungen neu positionieren zu können, muss sie sich einmal ihrer schon zur Selbstverständlichkeit geronnenen gesellschaftlichen Errungenschaften neu bewusst werden: eine neue Selbstverständigung ist gefragt. Zum anderen muss sie es sich ermöglichen, die Kompetenzen und den Reichtum fremder Kulturen kennen und schätzen zu lernen. Nur so bleiben wir nicht bei Toleranz stehen, sondern gelangen über tatsächliche Akzeptanz zur Nutzung von Andersartigkeit.

VI. Fazit

Integration (und Inklusion) ist keine Frage von Werten oder einer Leitkultur, sondern als Einschränkung von Möglichkeiten eine Frage des Rechts. Recht und Werte unterscheiden sich wesentlich durch die Entscheidungsorientierung sowie die institutionelle Einbindung und Absicherung des Rechts. Rechtsfragen werden durch Gerichte, Verfassungsrechtsfragen durch das Bundesverfassungsgericht verbindlich entschieden.

Bildung erleichtert Orientierung und Integration, weil sie Verständnis fördert. Verstehen heißt aber nicht anerkennen, also als Voraussetzung eigenen Erlebens und Handelns übernehmen. Allgemein anerkannt werden muss in einem pluralistischen Rechtsstaat nur das Recht.