Offenheit für Aufsuchende Bildungsarbeit – ein notwendiger Perspektivwechsel

Autor: Dr. Michael Lesky, Fachreferent Politik – Gesellschaft – Umwelt, Volkshochschulverband Baden-Württemberg

Volkshochschule will alle Menschen ansprechen und offen für alle sein, denn „Offenheit ist Prinzip und Merk-mal ihrer Arbeit: Volkshochschulen sind offen für Menschen aller sozialen Schichten und Einkommensgruppen, aller Milieus und Kulturen, für Menschen mit und ohne Behinderungen. Sie sind offen für Menschen mit unterschiedlichen und gegensätzlichen Auffassungen“.(1) Über die Grenzen dieser Offenheit wird aktuell heftig diskutiert. In dieser Diskussion geht es hauptsächlich um inhaltliche Abgrenzungen gegenüber demokratiefeindlichen Gruppierungen und eine entsprechende Haltung der Volkshochschule. Keine Rolle spielt hingegen die Frage, ob die oben genannte „passive“ Vorstellung von Offenheit – Volkshochschule ist offen für alle Menschen, die zu uns kommen (sollen) – überhaupt ausreicht, um alle Menschen anzusprechen. Es scheint vielmehr sogar extrem unwahrscheinlich, dass eine so „geöffnete“ Volkshochschule, in der etwa institutionelle und ökonomische Barrieren abgesenkt oder beseitigt werden, wirklich bisher bildungsungewohnte Gruppen erreicht.

Denn Volkshochschulen sprechen bisher mit einem großen Teil ihres offenen Kursprogramms besonders Menschen aus bürgerlichen Schichten an. Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen (wie besondere Lebenslagen, persönliche Bildungsgeschichte) keinen Platz im Lebenslangen Lernen gefunden haben, erreicht die Volkshochschule nicht. Um dieser Aufgabe auf einem professionellen Niveau nachgehen zu können, müssen die Adressatinnen und Adressaten gezielt mit aufsuchender Bildungsarbeit angesprochen werden. Weiterbildungsangebote für alle Menschen sind nur dann möglich, wenn sich die Bildungseinrichtungen auf bestimmte Zielgruppen zubewegen. Dazu bedarf es eines grundlegenden Perspektivwechsels und einer erweiterten Interpretation von Offenheit – Volkshochschulen sind nicht nur offen für alle Menschen, sondern auch offen für neue Zugangswege, neue Bildungsorte und neue Arbeitsweisen und damit für Aufsuchende Bildungsarbeit.

Aufsuchende Bildungsarbeit verlangt von den Bildungseinrichtungen und ihren Mitarbeitenden die Bereitschaft und die Fähigkeit, in der Bildungsarbeit bisher unübliche Wege zu gehen:

  • Aufsuchende Bildungsarbeit findet dort statt, wo sich die Menschen aufhalten: im Stadtteil, beim Bäcker, im Kino, in kirchlichen Einrichtungen, im Tafelladen, etc. (räumliche Dimension).
  • Der Ortswechsel, den die Aufsuchende Bildungsarbeit mit sich bringt, bedarf auch neuer Ansätze in der Arbeitsweise – weg von inhaltlichen Zuständigkeiten hin zu „Gebietszuständigkeiten“. Dies ist nur über eine Auflösung des Denkens in inhaltlich sortierten Programmbereichen möglich (organisatorische Dimension).
  • Bildungsplanende benötigen Kontakte zu Menschen mit Bildungsbedarf – dies kann über vertraute Personen aus deren näherem Umfeld geschehen (Familienmitglieder und Freunde etc.) oder aber im direkten Kontakt mit diesen Menschen als Experten in eigener Sache (soziale Dimension).
  • Bildungsangebote können für Menschen interessant werden, wenn sie sich, was ihre eigene Biographie anbelangt, in Umbruchsituationen befinden, so etwa die Geburt des Kindes, Veränderungen in der Familie oder ein beruflicher Neuanfang (zeitliche Dimension).
  • Die Angebote müssen lebensweltbezogen und handlungsorientiert gestaltet sein. Der Nutzen der neu zu erwerbenden Kompetenzen muss für den Teilnehmenden transparent dargestellt werden. Die Volkshochschule will die Menschen befähigen, in umfassender Weise politisch, kulturell, sozial und beruflich an der Gesellschaft teilzuhaben (inhaltliche Dimension).
     

Aus diesen Dimensionen ergibt sich der grundlegende Perspektivwechsel von Aufsuchender Bildungsarbeit: Die Volkshochschule kann nur dann Angebote für Menschen in besonderen Lebenslagen schaffen, wenn sie sich konsequent auf die Perspektive der Betroffenen einstellt und offen ist für neue Zugangswege, neue Bildungsorte und neue Arbeitsweisen. Dieser Perspektivwechsel kann nur gelingen, wenn auch die Aus- und Weiterbildungen sowie die Förderstrukturen auf die Anforderungen der aufsuchenden Bildungsarbeit angepasst werden.

 

(1) Die Volkshochschule – Bildung in öffentlicher Verantwortung (2011), S. 14.