Was hält unsere Gesellschaft zusammen?

Was hält unsere Gesellschaft zusammen?

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor des Volkshochschulverbandes Baden-Württemberg bis Dezember 2020 

I. Die Frage

Unsere Gesellschaft sieht sich derzeit veranlasst, immer häufiger und drängender danach zu fragen, was sie eigentlich zusammenhält. Die Frage kam 2015 anlässlich der einsetzenden Fluchtbewegung nach Europa und Deutschland als Frage nach der „Identität“ unserer Gesellschaft auf. Wie häufig, steigerte die verstärkte Begegnung mit Menschen anderer Herkunft und Kultur das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung. Neben diesem Anlass dürfte der Grund für die Frage nach unserem „sozialen Kitt“ aber tiefer reichen.

Unsere Gesellschaft zeichnet sich immer weniger durch Homogenität und immer mehr durch Vielfalt aus. Viele gesellschaftliche Bereiche singen das Hohelied der Diversität und deren Nutzen. Die Soziologie  erkennt nicht nur einen sogenannten Megatrend  zur Individualisierung, sondern – erweiternd – eine sämtliche Dimensionen des Sozialen durchdringende Singularisierung.

In einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) gerät das Allgemeine indessen in den Hintergrund. Eine solche Gesellschaft betont den Unterschied. Das Trennende, bis hin zur Rede von allerlei sozialen und anderen gesellschaftlichen Spaltungen, ist deshalb viel öfter Gegenstand öffentlicher Diskurse als das Verbindende. Gesellschaftliche Einheit erscheint ihr nicht mehr vorgegeben, sondern allenfalls noch aufgegeben. Deshalb thematisiert sie – gleichsam kompensatorisch – die Frage nach ihrem Zusammenhalt.

II. Erste Antworten

Hinzu kommt, dass unser – als integrierend und verbindend weitgehend anerkanntes – Grundgesetz eine (werte-)pluralistische, also eine ziemlich anspruchsvolle und voraussetzungsreiche Gesellschaft konstituiert, deren Inklusionsprinzip Differenzierung ist. „Differenzierung“ klingt indessen eher nach Desintegration. Und Einheit durch Vielfalt klingt sogar paradox.

Die Paradoxie indiziert die Kompliziertheit unseres Gesellschaftsmodells. Und genau damit ist sie das Maß für die Notwendigkeit von Allgemeinbildung und Allgemeiner Weiterbildung: Voraussetzungsreiche und anspruchsvolle Gesellschaften sind auf Bildung und Weiterbildung existentiell angewiesen. So wie unser sozialer Zusammenhalt nicht ohne die Eindämmung sozialer Ungleichheit denkbar ist, so ist er auch nicht ohne ein verhältnismäßig hohes Maß an Allgemeinbildung denkbar.

III. Vorgegebenes?

Andererseits sind verbindende Vorgaben nicht zu bestreiten: Die Mittellage Deutschlands in Europa ist ebenso wenig verfügbar wie die gemeinsame deutsche Sprache. In beiden Fällen fehlt es an Alternativen.

Viel weniger verbindend wirken die gemeinsame  Geschichte, gemeinsame Traditionen und eine gemeinsame Kultur, weil man Vergangenes sehr unterschiedlich interpretieren kann.

Dass eine sog. Leitkultur nur von beschränkter Integrationskraft ist, zeigt sich schon daran, dass die Frage nach ihrem Inhalt mehr Streit als Übereinstimmung auslöst. So erging es auch dem Versuch des damaligen Bundesinnenministers Thomas de Maizière über die „Leitkultur für Deutschland“ vom 1.5.2017 (https://vhs.link/3WmBZ2).

IV. Werte?

Gleiches gilt für die Standardantwort auf die Frage, was unsere Gesellschaft zusammenhält, nach der es die gemeinsamen Werte sein sollen. Als Orientierungsspender und damit als Integrationsmedien funktionieren Werte doch nur in sehr weiter Entfernung von handelnder und entscheidender Praxis. Denn nur hohe und höchste Abstraktion schützen sie vor Widerspruch. Je näher Werte der Praxis kommen, desto mehr geraten sie in die Widersprüche konkreter Fälle und Fragen. Etwa: Ist eine Abtreibung nach einer Vergewaltigung menschlich oder unmenschlich? Oder: Gilt Freiheit auch für die Feinde der Freiheit? Oder: Ist Friedfertigkeit auch gegenüber Gewalt geboten?

Im so verstandenen Wirklichkeitskontakt erweisen sich Werte also nicht als Konsensressourcen, sondern als widerlegbare Konsensunterstellungen, die genau dann versagen, wenn sie belastet werden. Und in diesen  Belastungssituationen stiften Werte dann nicht nur keinen Konsens, sondern heizen den Konflikt sogar an, weil beide Seiten in ihrem Namen umso erbitterter gegeneinander kämpfen.

Unter neuzeitlichen Bedingungen und in (werte-)pluralistischen Gesellschaften wie der unseren kommt noch eine weitere Erschwernis hinzu: die konkurrierenden Universalitätsansprüche der einzelnen Werte. Freiheit, Gerechtigkeit, Respekt, Anerkennung, Toleranz, Offenheit, Friedfertigkeit und Menschlichkeit wollen immer und überall gelten. Das führt zu schwierigen Wertrang-Fragen, ja geradezu in Paradoxien. Freiheit ohne Existenzsicherung kann unmenschlich sein. Gerechtigkeit kann das Ende der Friedfertigkeit erfordern. Demokratische Offenheit gegenüber den Feinden der Demokratie kann das Ende der Demokratie bedeuten. Und höchstes Recht kann in größte Ungerechtigkeit münden.

V. Kosten-/Nutzen-Kalkül

Verbindend wirken kann demgegenüber ein positiver Kosten-/Nutzen-Kalkül. Zusammenleben erfordert Kompromisse, also Verzichte auf eigene Maximalforderungen. Steht diesen Verzichten ein sie übertreffender Nutzen gegenüber, ist ihre Bejahung rational, daher massenhaft erwartbar und zuletzt die Übereinstimmung in der Anerkennung des größeren Nutzens real: Wegen ihres größeren Nutzens entscheidet man sich für diese Gesellschaft, zumindest nicht gegen sie und die konvergierenden Kalküle verbinden.

Leistungsfähige Nutzen-Versprechen in diesem Sinne sind Wohlstand durch wirtschaftlichen Erfolg, aber auch soziale Gerechtigkeit oder wenigstens Chancengleichheit in allen gesellschaftlichen Bereichen, von der Bildung über die Politik bis zur Gesundheit.

VI. Teilnahme- und Teilhabemöglichkeiten

Verbindende Wirkung auch jenseits rationaler Nutzenkalküle entfalten Möglichkeiten zur Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen und Ereignissen und erst recht Möglichkeiten zur Teilhabe daran. Teilnahme vermittelt das Gefühl, dazu zu gehören und Mitwirkung schafft darüber hinaus Identifikation.

VII. Allgemeinbildung

Mitwirkung setzt freilich ein Grundverständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge und gesellschaftliche Grundkompetenzen voraus – zumal in einer voraussetzungsreichen, anspruchsvollen Gesellschaft. Mitwirkung ist ohne Allgemeinbildung nicht denkbar.

Allgemeinbildung in diesem Sinne muss sich auch gegen die verführende Wirkung allzu einfacher politischer Antworten richten. Deshalb ist die unaufgeregte Frage nach dem gesellschaftlich Verbindenden, also nach dem sozialen Kitt, ein gutes Mittel gegen emotionale und emotionalisierende Identitätsbehauptungen: demokratische Diskussion statt autoritärem Populismus.

Und Allgemeinbildung hilft auch gegen Konzepte, die den eigenen Zusammenhalt aus der Gegnerschaft, ja Feindschaft gegenüber Anderen und Anderem zu gewinnen suchen. Denn sie erlaubt, über die Ablehnung des Irritierenden, des Fremden, hinaus zu gelangen und eine Antwort auf die Frage zu finden, was jede*r Einzelne zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen kann.

VIII. Ein Verbandsprojekt

Wegen der Dringlichkeit der Frage nach dem sozialen Kitt und wegen des Facettenreichtums der denkbaren Antworten fördert der Volkshochschulverband vhs-Veranstaltungen, die sich dem Thema widmen und  sammelt Antworten aller Art, theoretische und praktische, sachliche und ironische, optimistische und skeptische – und zwar aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, von der Kultur bis zu Wirtschaft und Beruf, von der Gesundheit bis zur Politik.