Chancen und Risiken für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland

Autorin: Alexa Lenz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im HybOrg-Forschungsprojekt, Universität Konstanz

„Wir müssen unter veränderten Bedingungen nach sozialer Gerechtigkeit streben, die unser Land zusammenhält“, befand Johannes Rau vor zwanzig Jahren in seiner Ansprache zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls. Doch noch immer steht das Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt hoch im Kurs. Begriffe wie Zusammenhalt, Zusammengehörigkeit und Identität haben im öffentlichen Diskurs besonders im Kontext der jüngsten Migrationsbewegungen wieder an Relevanz gewonnen. Auch Umfrageergebnisse aus dem Jahr 2016 betonen die Aktualität des Themas: Die Mehrheit der Bevölkerung ist der Ansicht, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland zumindest teilweise gefährdet ist (Arant et al. 2017).

Nun aber globale Migrationsbewegungen und die damit einhergehende kulturelle Diversität als alleinige Ursache für den wahrgenommenen Rückgang des Zusammenhalts zu identifizieren, wäre zu kurz gegriffen. Auch technologische und sozio-demographische Veränderungen sowie Globalisierungs- und Denationalisierungsprozesse müssen als Erklärungsfaktoren genannt werden. Diese führen zum Verlust traditioneller Zusammengehörigkeiten, indem sie das Konzept nationaler Identität in Frage stellen und neue Wertesysteme hervorbringen (Chan et al. 2006). Hinzu kommen Phänomene wie Individualisierung, Digitalisierung und die Entwicklung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, welche die soziale Struktur verändern.

Ein weiterer Faktor, der oft mit sinkendem Zusammenhalt in Verbindung gebracht wird, ist Ungleichheit (Schiefer & van der Noll 2017). Analysen zeigen, dass Einkommensungleichheit nicht nur stark mit Gesundheit und Kriminalität korreliert, sondern auch soziale Deprivation fördert und gesellschaftliche Teilhabe und Vertrauen reduziert (Bjørnskov 2008). In Deutschland hat die Einkommensungleichheit in den letzten Jahren zugenommen, wie Statistiken des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigen. Während das Realeinkommen der obersten zehn Prozent der Haushalte um 27 Prozent gestiegen ist, waren die untersten zehn Prozent von einem Rückgang um acht Prozent betroffen (DIW 2017). Außerdem zeigen Daten der Bertelsmann Stiftung, dass auch Armut, Arbeitslosigkeit und ein niedriges Bildungsniveau sich negativ auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirken. Beim Vergleich des gesellschaftlichen Zusammenhalts in deutschen Regionen, schnitten besonders die strukturschwachen Regionen schlechter ab (Arant et al. 2017).

In diesem Sinne sollten insbesondere Disparitäten im Bildungsbereich thematisiert werden. Bildungsungleichheit steht in direktem Zusammenhang mit Einkommensungleichheit und führt ebenfalls zu Marginalisierung und Vertrauensverlust (Nickell & Layard 1998; Green 2011). In einer länderübergreifenden Analyse fanden Green et al. (2003) auch einen direkten negativen Einfluss von Bildungsungleichheit auf soziale Kohäsion. Tendenziell bedeutet das, dass mit steigender Ungleichheit im Bildungssystem der gesellschaftliche Zusammenhalt im jeweiligen Land sinkt. Auch im Hinblick auf die positiven gesellschaftlichen Effekte von Bildung gibt es bereits zahlreiche Erkenntnisse: Die Sozialkapitalforschung beschreibt Bildung als Motor für gesellschaftliche Teilhabe und Vertrauen. Bildung ist außerdem ein starker Erklärungsfaktor für soziales wie politisches Engagement und fördert Chancengleichheit und damit die realistische Aussicht auf sozialen Aufstieg (Putnam 2000; Green et al. 2003). Trotz der zentralen Bedeutung von Bildung ist das deutsche Bildungssystem jedoch von anhaltenden Disparitäten zwischen Bildungsbenachteiligten und der Leistungsspitze geprägt. Der Bildungsstand der Eltern und die sozioökonomische Herkunft sind hierbei nach wie vor relevante Indikatoren (Bildungsbericht 2018).

Als Fazit bleibt also zu sagen, dass es verschiedener Lösungsansätze bedarf, um der öffentlichen Wahrnehmung vom sinkenden gesellschaftlichen Zusammenhalt entgegenzuwirken. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Thema Ungleichheit in seinen vielen Facetten. Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern braucht es neben der aktiven Gestaltung des sozialen Miteinanders letztlich auch wirtschaftspolitische Maßnahmen um soziale Ungleichheit zu reduzieren.

 

Quellen:

Arant, R., Dragolov, G., & Boehnke, K. (2017). Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017.  Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Bildungsbericht (2018). Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung. Autorengruppe Bildungsberichterstattung. Bielefeld. URL: https://www.bildungsbericht.de/de/ bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2018/pdfbildungsbericht-2018/bildungsbericht-2018.pdf

Bjørnskov, C. (2008): Social Trust and Fractionalization:  A Possible Reinterpretation, European Sociological Review, 24(3), 271–283.

Chan, J., To, H.-P., & Chan, E. (2006). Reconsidering Social Cohesion: Developing a Definition and Analytical Framework for

Empirical Research. Social Indicators Research, 75(2), 273–302.

DIW (2017) / Grabka, M. M., & Goebel, J. (2017): Realeinkommen sind von 1991 bis 2014 im Durchschnitt gestiegen: Erste Anzeichen für wieder zunehmende Einkommensungleichheit. DIW-Wochenbericht, 84(4),  71-82.

Green, A. (2011). Lifelong Learning, Equality and Social Cohesion. European Journal of Education, 46(2), 228-243.

Green, A., Preston, J., & Sabates, R. (2003). Education, Equality and Social Cohesion: A distributional approach, Compare: A Journal of Comparative and International Education, 33:4, 453-470.

Nickell, S. & Layard, R. (1998) Institutions and Economic Performance, LSE Discussion Paper, London: LSE.

Putnam, R. D. (2000). Bowling alone: The collapse and revival of American community. New York: Simon & Schuster.

Schiefer, D., & van der Noll, J. (2017). The essentials of social cohesion: A literature review. Social Indicators Research,  132(2), 579-603.