(Inter-)kulturelle Bildung und gesellschaftlicher Zusammenhalt

Autorin: Dr. Julia Gassner, Fachreferentin Kultur – Gestalten, Volkshochschulverband Baden-Württemberg

Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Ein unausgesprochenes Einverständnis über alltägliche Normen und Regeln des Zusammenlebens wie z. B. Pünktlichkeit? Das Bewusstsein, in einem Land zu leben, das Geistesgrößen wie Goethe, Schiller und Hegel hervorgebracht hat, und in dessen Tradition zu stehen?

Wenn von der Rolle der Kultur für den gesellschaftlichen Zusammenhalt die Rede ist, muss geklärt werden, ob ein weiter Kulturbegriff – d. h. die Alltagskultur – oder ein enger Kulturbegriff – im Sinne der Hochkultur – gemeint ist. Beides kann zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen, beides aber auch Differenzen betonen.

Alltagskultur verstehen und gemeinsame Kultur entwickeln

Die Alltagskultur bildet ein unsichtbares Orientierungssystem für unser Handeln: Auf der Basis in der Kindheit erlernter kultureller Muster entwickeln wir Handlungsroutinen und Selbstverständlichkeiten. Das erleichtert unser tägliches Leben; wir treffen Entscheidungen ohne langes Nachdenken, weil „man das so macht“. Was für Zusammenhalt, für sozialen Schmierstoff innerhalb einer Kultur sorgt, führt auf der anderen Seite jedoch dazu, dass Handlungen, die nicht diesen kulturellen Mustern folgen, auf Widerstand stoßen und zu Abgrenzung führen: „Wir“ gegen „Die“. Gerade die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass unterschiedliche (Herkunfts-)Kulturen zu einem Auseinanderdriften der Gesellschaft führen können bzw. geführt haben.

Die Proklamation einer „Leitkultur“ – „Wir geben uns zur Begrüßung die Hand.“, „Wir sind nicht Burka.“1 – löst dieses Problem jedoch nicht. Um den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu fördern, ist vielmehr eine bewusste Auseinandersetzung mit der Kultur – der eigenen und der anderen – erforderlich. Wer sich selber bewusst wird, dass und wie er oder sie von der eigenen Kultur geprägt ist, kann Verständnis dafür entwickeln, dass andere Menschen von ihren Kulturen genauso geprägt sind, sie sich also nicht absichtlich „falsch“ verhalten, sondern ihren eigenen kulturellen Mustern folgen. Wichtig ist, nicht zu „überkulturalisieren“: Auch individuelle Persönlichkeitsmerkmale, Vorlieben usw. prägen das Verhalten.

Wenn es gelingt, eigene und fremde kulturelle Muster zu erkennen und zu reflektieren, kann in einem zweiten Schritt ein Aushandlungsprozess, eine Weiterentwicklung der gemeinsamen Kultur erfolgen. Das kann Verbindendes offen legen – und auch wenn keine Einigung möglich ist, stärkt der Diskurs den gesellschaftlichen Zusammenhalt. So erklärt jedenfalls der Soziologe Aladin El-Mafaalani das Integrationsparadox: Je mehr die Gesellschaft zusammenwächst, desto mehr Konflikte müssen ausgetragen werden.2

Hochkultur verstehen und neue Ästhetiken zulassen

Musik, Literatur, Theater: Auch die so genannte Hochkultur ist prägend für eine Kultur. Gerade Deutschland, das „Land der Dichter und Denker“, verfügt über eine vielfältige Kulturszene und eine ausgeprägte staatliche Kulturförderung. „Hochkultur gilt als Kern deutscher Identität“, konstatiert Birgit Mandel, Professorin für Kulturmanagement und Kulturvermittlung.3 In Relation zur Einwohnerzahl gibt es sonst nirgends so viele Theater, Museen und Konzerthäuser. Ihre Werke, Inszenierungen, Ausstellungen spiegeln aktuelle gesellschaftliche Themen und können dazu beitragen, Fragen nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stellen und zu beantworten. Allerdings nutzen nur etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung diese Kultureinrichtungen. Auch hier zeigt sich also eher eine Spaltung der Gesellschaft, die umso mehr zum Tragen kommt, wenn die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen, das Wissen über Hochkultur und die Kenntnis gewisser kultureller Codes als Distinktionsmerkmal eingesetzt werden. 

Um mehr Menschen zu erreichen, haben viele Kultureinrichtungen bereits begonnen, niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten zu erproben, wie etwa Werkeinführungen, Blicke hinter die Kulissen oder barrierefreie Führungen. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist darüber hinaus erforderlich, westlich orientierte „ästhetische Hierarchien“ aufzubrechen,4 anzuerkennen, dass es andere Ästhetiken gibt und das  Programm so vielfältig zu gestalten wie die Gesellschaft selbst.5

Kulturelle und interkulturelle Bildung

Die Hoch- und Alltagskultur anderer Länder noch stärker im Programm zu verankern, ist eine Möglichkeit, wie Volkshochschulen das Potential von Kultur zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhangs nutzen können. Doch schon jetzt bieten Volkshochschulen Zugang zur Kultur und zu Kulturen: Mit ihren Angeboten der (inter-)kulturellen Bildung tragen sie dazu bei, dass der Anspruch „Kultur für alle“ in die Realität umgesetzt wird. Sie ebnen Wege zu Einrichtungen der Hochkultur, vermitteln kulturelles Wissen, bieten Einblicke in andere Kulturen und sensibilisieren für die eigene Kultur. Kulturelle Bildung, die Auseinandersetzung mit Kultur – seien es Kunstwerke, Bräuche, Traditionen oder Lebensgewohnheiten – kann dazu führen, Verbindendes zu entdecken und Trennendes zu verstehen. Und neben Gesprächen über Kultur(en) trägt das gemeinsame kulturelle Schaffen – sei es beim Tanzen, Malen oder Nähen – dazu bei, eine gemeinsame Kultur zu entwickeln.

 

Quellen:

(1) Vgl. den Beitrag von Thomas de Maizière: https://www.zeit.de/ politik/deutschland/2017-04/thomas-demaiziere-innenministerleitkultur/seite-2

(2) Aladin El-Mafaalani: Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. 2018.

(3) Im Gespräch mit dem Goethe-Institut: https://www.goethe.de/de/ kul/ges/eu2/rhr/20940616.html

(4) So ein Ziel der documenta 14, s. https://www.documenta.de/de/ retrospective/documenta_14#.

(5) Vgl. dazu das Stichwort „Qualität und Ästhetik“ in: Interkultur für alle. Ein Praxisleitfaden für die Kulturarbeit. Herausgegeben vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (2015). Online unter: https://mwk.badenwuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-mwk/intern/dateien/ publikationen/Interkultur_fuer_alle_9.7.15_onlineVersion.pdf