Sprache als Spiegel der Gesellschaft

Autorin: Olga Grimm, Fachreferentin für Sprachen und Integration, Volkshochschulverband Baden-Württemberg

Stellt man dem allwissenden Google die Frage „Was hält die Gesellschaft zusammen?“, bekommt man rund 28 Millionen Antwortvorschläge. Und dennoch bleibt diese Frage eine der härtesten Herausforderungen unserer Zeit, und das nicht nur in Deutschland.

In der Politik und in den Medien ebenso wie am Küchentisch zahlreicher Familien werden die Gründe für das gesellschaftliche Auseinanderdriften diskutiert und Lösungsideen generiert. Dabei steht bei der Problemdebatte die Migration an der prominentesten Stelle. Die Lösung ist einfach: Zugezogene sollen Deutsch lernen und sich integrieren.

Einfach?

Menschen leben in unterschiedlichen Kulturen und sprechen verschiedene Sprachen. Gleich für alle ist die Funktion der (verbalen und nonverbalen) Sprache als das wichtigste Kommunikationsmittel. Darüber hinaus dient allen die Sprache als Instrument, mit dem wir uns die Welt begreifbar machen. Und genau an dieser Stelle fängt die Komplexität an:

Eine wachsende Zahl von neurowissenschaftlichen Studien beweist, dass die Sprache unsere Wahrnehmung deutlich beeinflusst. Denn jede Sprache ist kein neutrales objektives Medium, sondern immer emotional gefärbt und transportiert kulturell bedingte Wertungsmuster. Beispiele dafür findet man schnell u. a. in den Medienberichten diverser Länder: So wird der syrische Regierungschef Baschar al Assad je nach Land und Kultur als gewählter Präsident, Machthaber oder Diktator definiert. Allein dieses Beispiel verdeutlicht, wie schnell dieselben Sachverhalte zum Teil konträr wahrgenommen bzw. vermittelt werden.

Die Verbindung der Sprache mit unserer Kognition geht aber über den Einfluss auf unsere Wertungsmuster hinaus. Sie verkörpert die Spezifik der gesamten Weltauffassung ihrer Nutzer. So zeigen beispielsweise laut dem Max-Planck-Institut für Psycholinguistik moderne Forschungen, dass Kulturen, die keine Wörter für „links“ und „rechts“ in ihrem Sprachrepertoire vorweisen und räumliche Relationen stattdessen anhand von Himmelsrichtungen beschreiben (z. B. „Der Stein liegt östlich des Baums.“), anders über räumliche Beziehungen nachdenken als Sprecher der meisten europäischen Sprachen. Zusammenfassend kommen die Forscher zu der Annahme, dass Leute mit unterschiedlichen Muttersprachen die Welt zu einem gewissen Grad auf unterschiedliche Weise sehen. Dies trifft im Übrigen nicht nur auf die ca. 7 000 Sprachen der Welt zu, sondern auch auf die unzähligen Sprachvarianten wie Dialekte und Soziolekte. Auch sie spiegeln unmittelbar die Kultur ihrer Nutzer wider und bestimmen maßgeblich die Entwicklung der persönlichen Identität der Sprecher mit.

Sprache verbindet und trennt.

Aus der skizzierten Verbindung der Sprache mit der Identität der Menschen ergibt sich eine weitere Eigenschaft der Sprache: Sie kann sowohl verbinden als auch trennen.

Anhand sprachlicher Zeichen (Wortwahl und Syntax, Aussprache und Stimmführung usw.) werden Menschen bestimmten nationalen, regionalen und sozialen Gruppen zugeordnet. Die Zuordnung ruft bei den  Kommunikationspartnern Gefühle wie Identifikation und Solidarität oder aber Abneigung und Distanzierung hervor. Letzteres kann zu Stigmatisierungen und Ausgrenzungen führen.

So wie die Sprache viele unterschiedliche Facetten hat, haben auch Ausgrenzung und Diskriminierung aufgrund der Sprache viele Gesichter. Menschen, die Sprachen von ethnischen bzw. sozialen Minderheiten (einschließlich der Gebärdensprache) sprechen, sind diesem Risiko besonders ausgesetzt: z. B. wenn wegen einer bestimmten Sprechweise (wie Akzent oder Dialekt) in Bildungseinrichtungen schlechtere Noten vergeben werden oder wenn einer Person die Kompetenzen für einen bestimmten Beruf a priori abgesprochen werden. Derartige Praktiken führen nicht nur automatisch zu sozialer Benachteiligung, sondern gefährden auch die soziale Identität der Betroffenen mit der Gruppe. Folglich gefährden sie den Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Zusammenhalten

Nun zurück zu der Frage „Was hält die Gesellschaft zusammen?“. Die Lösung ist einfach und steckt bereits in der Frage: zusammenhalten. Zusammenhalten bedeutet, dass einer zum anderen hält – trotz der Unterschiede in kultureller, sprachlicher, religiöser, ökonomischer, politscher, ökologischer und schließlich individueller Hinsicht. Es bedeutet keinesfalls eine Forderung des einen nach der Assimilation (der Angleichung) des anderen. Es geht um das Gemeinsame, das Einende, in einer pluralistischen Gesellschaft. Konkret bedeutet dies z. B., dass einerseits die Minderheiten die Sprache der Mehrheitsgesellschaft beherrschen sollen, ohne die es keine Teilhabe gibt. Andererseits bedeutet dies, dass die Mehrheitsgesellschaft die herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit nicht als integrations- und bildungshemmend verurteilt, sondern sie als wertvolle Ressource anerkennt.

Damit der Zusammenhalt in der Gesellschaft gelingt, bedarf es, neben der gemeinsamen Sprache, einer Sensibilisierung für das Andere sowie der Anerkennung und des Austausches darüber, was die Gesellschaft trotz der Differenzen eint. Es bedarf eines gezielten Dialogs zwischen den Vertretern unterschiedlicher Wertesysteme und Weltanschauungen. Und es bedarf der Menschen, die Brücken bauen – der Menschen, die mehrere Sprachen sprechen und sich in unterschiedlichen Kulturen zu Hause fühlen.

Mit ihrem niederschwelligen und umfassenden Angebot sorgen die Volkshochschulen bereits seit Jahrzehnten dafür, dass sich Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus begegnen und zu gemeinsamen Themen austauschen. Mit Formaten wie „Dorfgesprächen“, offenen Vorträgen mit anschließenden Diskussionen, Streitgesprächen oder klassischen Sprachkursen fördern die Volkshochschulen das reflektierte Eintauchen in unbekannte Lebenswelten und schärfen dadurch den gesellschaftlichen Blick für das Einende.