Trägt unsere demokratische Kultur?

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor des Volkshochschulverbandes Baden-Württemberg bis Dezember 2020 

Die unmittelbare Bedrohung durch die Verbreitung des Corona-Virus hat alle Themen, die uns vor der Krise brennend beschäftigten, in den Schatten gestellt. Von Populismus, Klimawandel und Integration ist öffentlich kaum noch die Rede. Das ändert nichts daran, dass keine dieser Herausforderungen bewältigt ist. Deshalb tun wir gut daran, auch in Corona-Zeiten über sie nachzudenken. Das gilt auch für die Themenfrage dieses Beitrags.

Er schillert. Der Begriff der demokratischen Kultur reicht von kultureller Demokratie im Sinne einer nicht-elitären Kultur bis zu den informellen Regeln und Grundlagen der Demokratie als Staatsform. Im letzteren Sinne, also im Sinne der Innenausstattung der Demokratie, ist er hier zu verstehen.

Die Innenausstattung unserer Demokratie kommt durch mindestens drei gegenwärtige Herausforderungen auf den Prüfstand:

  • Die populistische Herausforderung besteht darin, dass die übervereinfachende Unterscheidung zwischen einem angeblich einheitlichen, (ethnisch) homogenen „Wir“ einerseits und „den Fremden und dem Fremden“ andererseits – auch historisch – eine zutiefst undemokratische Tendenz zu Sicherheit verheißendem Autoritarismus birgt.
  • Die ökologische Herausforderung liegt bei weitem nicht nur in der faktischen Bedrohung unserer Lebensgrundlagen. Sie liegt auch darin, dass bei diesem Thema – durchaus zu Recht – sehr mit wissenschaftlicher Wahrheit argumentiert wird. Wenn es indessen um Politik, also um für alle verbindliche Entscheidungen geht, setzt die Demokratie primär auf Mehrheit, nicht primär auf Wahrheit. Und die Mehrheit kann sich angesichts dringlichster ökologischer Handlungsnotwendigkeiten auch für einen sozialverträglichen und daher nur langfristigen Ausstieg aus der Kohle entscheiden.
  • Und die prinzipielle Herausforderung besteht darin, dass wir in Zeiten von Social Media, Fake News und „alternativen Fakten“ womöglich unsere Streitkultur neu justieren müssen. Wie gut kommt unsere – vom Grundgesetz als streitbar, wehrhaft konstituierte – Demokratie mit emotionalisierten Auseinandersetzungen zurecht?

 

Wahrheit und Mehrheit

Für die Wissenschaft ist die Lage denkbar eindeutig: Der Klimawandel erfordert sofortiges weltweites politisches Handeln in existenziellem Maßstab, sonst ist es für unsere heutige Welt zu spät. Die nicht nur jugendlichen Anhänger*innen der Bewegung „Fridays For Future“ verstehen deshalb nicht, weshalb die Politik nicht einfach tut, wonach die wissenschaftliche Wahrheit verlangt. Alles andere sei doch unvernünftig und unverantwortlich.

Ganz so einfach ist es indessen nicht. Das zeigen schon die zahlreichen anderen Fälle, in denen sehr viele froh sind, dass die Politik der Wissenschaft nicht einfach folgt, also etwa nicht alles erlaubt, was aus wissenschaftlicher Sicht (technisch) machbar ist.

Tatsächlich „ticken“ Wissenschaft und Politik aufgrund ihrer unterschiedlichen Aufgaben sehr verschieden. Schon gar in einer Demokratie. Welchen Sinn hätten demokratische Abstimmungen und Wahlen, wäre die wissenschaftliche Wahrheit zugleich die politische Wahrheit? Was hätten Mehrheiten dann noch zu entscheiden? In Sachen Klimawandel jedenfalls praktisch nichts mehr.

Die individuell erkennbare objektive Wahrheit passt denn auch viel besser zum Gegenmodell der Demokratie, zur Diktatur: Alleinige Erkenntnis erlaubt alleinige Herrschaft.

Identitätsbestimmend für die Demokratie ist demgegenüber ihre Skepsis gegenüber erkennbarer objektiver Wahrheit. Und diese Skepsis ist zugleich ihr Lebenselixier. Man sagt, eine der zentralen evolutionären Errungenschaften des Rechtsstaats sei es, dass er mit seinem eigenen Irrtum, also mit seinem eigenen Unrecht rechnet. Ganz analog ist eine der zentralen evolutionären Errungenschaften der Demokratie, dass sie hinsichtlich jeder Erkenntnis mit einem Irrtum rechnet. Wegen dieser Relativität jeder Erkenntnis werden alle gefragt und gelten demokratische Entscheidungen immer nur auf Zeit.

Man kann entgegnen, die Relativität der Erkenntnis gelte nur für normative Erkenntnis. Werturteile seien abhängig von der erkennenden Person, nicht jedoch Tatsachen, wie beispielsweise die Gravitationskraft. Für naturgesetzliche Tatsachen mag dieser Einwand zutreffen, wenngleich auch die Gravitationskraft durchaus unterschiedlich interpretiert wird. Bei nicht naturgesetzlichen Tatsachen jenseits des Kausalitätsprinzips ist seine Berechtigung aber zweifelhaft. Darauf kommt es indessen gar nicht an.

Spätestens wenn objektive, wissenschaftliche Wahrheiten in die politische Sphäre gelangen, werden sie auch politisch bewertet und spätestens diese Bewertungen sind relativ.

Das bedeutet freilich nicht, dass wissenschaftliche Wahrheit für politische Entscheidungen irrelevant ist. Aber die politische Verarbeitung wissenschaftlicher Wahrheit verändert deren Charakter: Es ist nicht mehr unvernünftig, ihr zu widersprechen.

Und diese Widersprechlichkeit wirkt auf alle zurück, die zu demokratischen Entscheidungen aufgerufen sind. Entscheidend wird die Einschätzung der (wissenschaftlichen) Wahrheit durch jede*n einzelne*n zur Mitentscheidung Aufgerufene*n.

Sache und Person

Die Grenzen des öffentlich Sagbaren haben sich verschoben. Populistische Auffassungen bis hin zu antidemokratischen, extremistischen und rassistischen Äußerungen sind alltäglich viel öfter und deutlich lauter zu hören als noch vor Jahren. Die Frage des Umgangs mit der AfD und ihrer beträchtlichen Wählerschaft ist zeitweise zur politischen Gretchenfrage geronnen.

Die Antworten reichen von der Empfehlung, sich mit Rechtspopulisten nicht ernsthaft auseinanderzusetzen, sondern ihnen durch „Dethematisierung“ keine Aufmerksamkeit zu verschaffen, sie also „kurz und trocken“ abzutun (Jürgen Habermas) bis zu der Mahnung, unser demokratisches Gemeinwesen könne seine Immunkräfte nur entfalten, wenn wir „die streitbare Auseinandersetzung mit ihnen suchen“ (Thea Dorn, DIE ZEIT vom 5.9.2019, S.12).

Dethematisierung ist das Stichwort, aber nicht als Therapie, sondern für die Diagnose. Populistische Positionierungen leben von der Dethematisierung sachlicher, politischer Probleme zugunsten der Thematisierung von Gefühlen, Empfindungen und Stimmungen. Gefühle, Empfindungen und Stimmungen sind aber so ausschließlich subjektiv, dass sie unwidersprechlich sind. Das behauptete Gefühl von Unsicherheit durch die Begegnung mit Fremden lässt sich argumentativ nicht widerlegen, weil alleine der*die Fühlende darüber disponiert. Über Gefühle zu streiten, ist sinnlos und macht den*die Bestreitende*n zum*r Unterlegenen.

Die Emotionalisierung der politischen Auseinandersetzung zeitigt darüber hinaus eine zweite Wirkung. Wird über Gefühle statt über zu lösende Probleme diskutiert, kollabiert schnell die Unterscheidung von Person und Sache, weil die Person ja die Sache ist. Die Aufhebung der Unterscheidung moralisiert die Auseinandersetzung. Wer die Angst des Gegenübers vor „Überfremdung“ nicht versteht, droht die Achtung als Mitmensch zu verlieren. Damit geht es nicht mehr nur um eine sachliche Differenz, sondern um alles, um die soziale Existenz. Die zu beobachtende Zunahme an Anschlägen auf Politiker*innen ist die letzte Stufe dieser Eskalation.

Die Moralisierung der Auseinandersetzung durch die Aufhebung der Unterscheidung von Person und Sache erschwert Interessenausgleich durch Verständigung, also Kompromisse in der Sache und schließt Versöhnung nahezu aus. Die aktuell immer häufiger und drängender gestellte Frage nach dem Zusammenhalt unserer von Vielfalt und Diversität geprägten Gesellschaft gründet auch in diesem Verlust der integrativen Wirkung sachlicher öffentlicher Diskurse.

Thema und Meinung

Konstitutiv für demokratische Auseinandersetzung ist indessen nicht nur die Unterscheidung von Person und Sache, sondern auch die Unterscheidung von Thema und Meinung. Eine demokratische, eine offene Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie zu jedem Thema grundsätzlich unterschiedliche Meinungen zulässt.

Dem entsprechend schützt die Meinungsfreiheit des Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz alle Meinungen, unabhängig von ihrem Inhalt, auch Aussagen, die dem Grundgesetz widersprechen, also auch antidemokratische, diskriminierende, extremistische und populistische Positionen. Nicht mit Blick auf den Inhalt der Meinung wird die Meinungsfreiheit beschränkt, sondern durch die allgemeinen, also nicht meinungsbezogenen Gesetze, den gesetzlichen Jugendschutz und das Recht der persönlichen Ehre (Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz).

Während der Kampf gegen den Kern der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und Gewalt allgemein im „Meinungskampf“ stets tabu sind, scheidet „Politische Korrektheit“ als legitime Schranke der Meinungsfreiheit aus. Worüber diskutiert werden darf, bestimmt in unserer rechtsstaatlichen Demokratie ausschließlich das Recht, bestimmen nicht irgendwelche (selbsternannten) Autoritäten. So verstandene Meinungsfreiheit mag manchmal schwer zu ertragen sein. Aber sie garantiert andererseits das Recht zu jederzeitigem Widerspruch.

Fazit

Die erforderliche Stärkung unserer demokratischen Kultur verlangt dreierlei:

  • den konsequenten Widerspruch gegen die angeblichen Verheißungen autoritativer politischer Führung,
  • anstelle eines selbstverständlichen politischen „Durchmarschs“ wissenschaftlicher Wahrheit deren politische Verarbeitung, letztlich durch die Wähler*innen und
  • die konsequente Aufrechterhaltung der Unterscheidungen von Thema und Meinung sowie von Sache und Person in der politischen Auseinandersetzung.