Demokratie im Spannungsfeld zwischen Identität und Diversität

Autorin: Olga Grimm, Fachreferentin für Sprachen und Integration, Volkshochschulverband Baden-Württemberg

Die fortschreitende Globalisierung und Internationalisierung forcieren die Öffnung der Gesellschaften. Dies geht jedoch mit wieder aufflammenden ethnischen, nationalistischen, religiösen und kulturellen Separationsbewegungen einher. Der wachsende Wunsch nach Demokratisierung bei den Einen führt gleichzeitig zum Widerstand im Namen einer kulturellen Identität bei den Anderen. Länder mit einer langen Demokratietradition müssen sich immer stärker mit den Initiativen auseinandersetzen, die auf die Entdemokratisierung abzielen.

So werden auch in Europa die Stimmen immer lauter, die die Gefährdung nationaler Werte und Identitäten in der Internationalisierung, vor allem in der Migration, sehen. Die Reden über kulturelle Unterschiede sind inzwischen so omnipräsent, dass sie ganz natürlich zu sein scheinen. Dabei werden ganze Personengruppen, mehr noch Nationalitäten, entlang der geografischen, nationalen oder religiösen Grenzen auf eine Kultur reduziert und mit bestimmten Charakteristika stigmatisiert.

Die variantenreichen und teilweise widersprüchlichen Weltanschauungen dieser Gruppen werden dagegen völlig ausgeblendet. Es wird beispielsweise nicht danach gefragt, ob die Personen sich mit den ihnen zugeschriebenen Weltbildern und Werten identifizieren oder ob und wie sie auf kulturell geprägte Handlungsmuster zurückgreifen.

Das gleiche Bild zeichnet sich bei den Lebensbiographien ab: Die kulturelle Zugehörigkeit wird als ein starres Konstrukt verstanden. Es wird dabei außer Acht gelassen, dass sich die Individuen gleichzeitig mehreren Kulturen verbunden fühlen können oder dass sich ihre Weltanschauungen und ihre Wertemuster im Lebensverlauf verändern können.

Solche kulturellen Differenzierungen führen zwangsläufig zu vorschnellen Bewertungen und somit zu einer Hierarchiebildung zwischen den Kulturen und Nationalitäten. Und spätestens an dieser Stelle entsteht ein Bruch mit den demokratischen Grundsätzen.

Denn die Gleichheit, als eine der tragenden Demokratiesäulen, bedeutet naturgemäß eine gleiche Stellung und somit die Anerkennung des Anderen als ebenbürtig in seinem Anderssein. Sie bedeutet keinesfalls eine Forderung des Einen nach der Assimilation (der Angleichung) des Anderen. Eine moderne Demokratie basiert auf der Idee einer offenen Gesellschaft und erkennt die Pluralität von Werten, Interessen und Lebensweisen an. Nicht zuletzt darin liegt ihre Abgrenzung zum Populismus, das von homogenen kulturellen Einheiten ausgeht.

Das Leben in vielfältigen Gesellschaften und ein respektvoller Umgang miteinander verlangen, dass man sich immer wieder mit neuen Kontexten und anderen Lebensweisen auseinandersetzt sowie über die selbst oder fremd gesetzten Grenzen hinausdenkt.

Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und Wertewelten bietet neben der Erweiterung des eigenen Horizontes auch eine Chance, die gesellschaftlichen Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven neu zu beleuchten und zu diskutieren. Dieser Diskurs könnte die Grundlage für einen neuen Konsens, für ein neues und stärkeres Miteinander in einer gelebten Demokratie bilden. Einer Demokratie, die nicht auf der Assimilation verschiedener Weltanschauungen basiert, sondern auf einem gemeinsamen Fundament – dem Recht und der Verfassung – in einer pluralistischen Gesellschaft.

Die Aversionen gegenüber den Anderen (gegenüber der Diversität) werden dann abebben, wenn ein gerechtes Bildungssystem, Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und gesicherte Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und kulturellen Leben für alle Bevölkerungsgruppen gewährleistet sind. Die Demokratie wird dann wieder gestärkt, wenn sich alle jenseits ihrer herkunftsbedingten Sozialisationsgeschichten als selbstverständlich anerkannt und gleichberechtigt fühlen.

Dafür bedarf es einer Politik und einer gesamtgesellschaftlichen Haltung, die faire Chancen ermöglicht und strukturelle Blockaden durch herkunftsbedingte Benachteiligung, Diskriminierung oder Armut abschafft. Positive Vorbilder sollen stärker in den Fokus gerückt werden, um Vorurteile und Diskriminierungen gegenüber Minderheiten abzubauen. Eine solche Durchlässigkeit der Strukturen wird für viele Menschen neue Potenziale in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt eröffnen und somit spalterische Debatten reduzieren.

Ohne Solidarität und Empathie, Konfliktfähigkeit und einen friedlichen Austausch von Argumenten, schließlich ohne einen fairen Umgangs miteinander, kann es keine gelebte Demokratie geben.

In diesem Spannungsfeld ist die Bildung von entscheidender Bedeutung: Sie befasst sich kritisch mit verbreiteten Normalitätsannahmen, befähigt zum faktenbasierten und reflektierten Denken sowie schafft Begegnungen für einen erfolgreichen Wertedialog auf Augenhöhe. Durch die Sensibilisierung für das Andere und den kompetent geführten Austausch darüber, was die Gesellschaft trotz der Differenzen eint, schafft Bildung weiterhin eine Basis für ein gleichberechtigtes Zusammenleben zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer, kultureller und sozialer Herkunft, diverser religiöser und weltanschaulicher Zugehörigkeit sowie verschiedenen Alters und Geschlechts.