Die Volkshochschulen: Krisenzeiten sind Bildungszeiten

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor des Volkshochschulverbandes Baden-Württemberg bis Dezember 2020 

Die Notwendigkeit, die Verbreitung des Corona-Virus einzudämmen, hat unsere individuelle und gesellschaftliche Normalität drastisch verändert: Schulen sind geschlossen, ganze Belegschaften arbeiten von zu Hause aus, das familiäre Zusammenleben erlangt eine neue Intensität, die soziale Mindestdistanz hat sich mindestens verdoppelt, Hygieneregeln sind ein öffentliches Thema und verändern unsere Begrüßungs- und Verhaltensrituale, Video-Konferenzen müssen persönliche Begegnungen ersetzen und – nicht zuletzt – unsere generelle Alltagserwartung, die Bedingungen der Gegenwart werden im Großen und Ganzen auch die zukünftigen sein, ist tief erschüttert.

Wir beschreiben diese Situation der Veränderungen als Corona-Krise. Krisenzeiten sind bekanntlich Zeiten der Entscheidung. Sie sind aber auch Zeiten des Lernens, des umfänglichen und raschen Umlernens. Insofern gilt: Krisenzeiten sind Bildungszeiten.

Deshalb ist es zwar verständlich, aber auch bedauerlich, dass die Einrichtungen der institutionellen Bildung und Weiterbildung wie die Volkshochschulen in ihrem Betrieb aktuell derart eingeschränkt sind. Freilich nur in ihrem analogen Betrieb. Ihre digitale Arbeit erlebt derzeit einen enormen Entwicklungsschub. Nachdem in einem ersten Schritt in kürzester Zeit mit viel Engagement vielfältige digitale Angebote geschaffen wurden, gilt es nun in einem zweiten Schritt, diese Angebote zu evaluieren und auszuarbeiten, um sie in der „analogitalen vhs“ nachhaltig zu verankern. Beiden Schritten dient unsere Digitalisierungsoffensive März 2020: https://www.vhs-bw.de/digitalisierungsinitiative-maerz-2020.pdf 

Die Digitalisierung unserer Arbeit ist indessen nicht die einzige Chance und Herausforderung der Volkshochschulen durch die Corona-Krise. Denn sie hat eine Kehrseite: Bei weitem noch nicht alle Menschen verfügen über die erforderlichen Kompetenzen – und auch nicht über die technischen Voraussetzungen –, bei einem derartigen Digitalisierungsschub mitzuhalten. Die Krise wird die Bildungsspaltung unserer Gesellschaft also vertiefen. Dem müssen und wollen die Volkshochschulen entschieden entgegenwirken. Denn ihr öffentlicher Auftrag verpflichtet sie dazu, Bildung für die Allgemeinheit, Bildung für alle zu ermöglichen.

Also etwa auch für die Menschen, die über den unmittelbaren sozialen Austausch und nur bei direkter persönlicher Begleitung lernen. Deshalb müssen die Volkshochschulen parallel zur Digitalisierung auch als Orte physischer Begegnung und als Orte des sozialen Lernens erhalten und fortentwickelt werden.

Hinzu kommen zahlreiche inhaltliche Herausforderungen. In und nach dieser Zeit beschleunigter Veränderung bedarf es der Begleitung der Gegenwart, einer neuen Orientierung und der Gestaltung der Zukunft.

Homeoffice, Kurzarbeit oder gar (drohende) Arbeitslosigkeit stellen Menschen vor Herausforderungen, die auch mit Bildungsangeboten aufgefangen werden können und müssen: von Techniken zur Stressbewältigung über den kreativen Umgang mit Krisen bis zur beruflichen Weiterentwicklung oder Neuorientierung. Viele Kinder und deren Familien bedürfen dringend passgenauer schulergänzender und -begleitender Maßnahmen, um durch die Krise Versäumtes nachholen zu können. Und insgesamt stellt sich die Zukunft nach Corona aufgrund der dann vergangenen gegenwärtigen Erfahrungen neu, und das heißt ungewisser dar: Wie wird es sein, unser „Wir“ danach?

Wie steht es nach der Krise um unseren Zusammenhalt, wie um die gesellschaftlichen Spaltungen? Wie hat die neue Normalität unseren Alltag und unsere Beziehungen verändert? Haben sich neue Formen der Solidarität entwickelt? Hat sich unsere rechtsstaatliche Demokratie als krisenfest erwiesen? Konnten wir uns in der Krisenkommunikation auf unser kritisches Urteilsvermögen verlassen? Was bedeutet uns Gesundheit künftig? Wie hat die erlebte gesundheitliche Bedrohung unser Verhältnis zum Tod beeinflusst? Und wie unser Denken über eine gesündere Umwelt, über eine gesündere Art des Wirtschaftens? Oder geben wir nach der erzwungenen Entschleunigung einfach wieder Gas? Diese und viele weitere grundsätzliche Fragen müssen die Volkshochschulen thematisieren, um sie gemeinsam mit ihren über 2,2 Millionen Teilnehmer*innen und einem möglichst noch größeren Kreis der Bevölkerung zu diskutieren.

Das kann aber nur geschehen, wenn die Volkshochschulen die aktuellen Einschränkungen ihres Betriebs zunächst überstehen. Ihre derzeitigen Einnahmeausfälle, einschließlich der ihrer Kursleiter*innen, sind gravierend. Deshalb sind die Kommunen und das Land aufgerufen, sie wirtschaftlich durch Soforthilfen ebenso abzusichern, wie das für Unternehmen der Wirtschaft selbstverständlich ist.

Darüber hinaus sind die aktuelle Fortsetzung und der künftige Ausbau insbesondere der institutionellen Förderung durch das Land und die Kommunen unerlässlich. Denn auch die rückblickende Analyse und Interpretation der Krise für die Zukunft ist eine Bildungsaufgabe.

In der sog. Flüchtlingskrise ab 2015 haben sich die Volkshochschulen als reaktionsfähige und verlässliche Partnerinnen von Politik und Gesellschaft erwiesen und Integration bis heute sehr zu ihrer Sache gemacht. Sie haben den geflüchteten Menschen durch ihre Integrationskurse und viele weitere Angebote Halt, Orientierung und Perspektive gegeben und die Bevölkerung als aufnehmende Gesellschaft dabei unterstützt, fremde Kulturen schätzen zu lernen. Deshalb ist das Vertrauen von Politik und Gesellschaft jetzt verdient. Wir werden es erneut rechtfertigen.