Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Allgemeinbildung und Volkshochschule in besonderen Zeiten

Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Allgemeinbildung und Volkshochschule in besonderen Zeiten

Autor: Dr. Michael Lesky, Fachreferent Politik - Gesellschaft - Umwelt, Volkshochschulverband Baden-Württemberg 

Aktuell (März 2020) sitzt der Autor dieser Zeilen in seinem Homeoffice und vermisst den Begegnungsort Volkshochschule – die soziale Isolation erscheint als der einzige Weg aus der Krise. Wie erleben wir in dieser Situation den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Viele Menschen engagieren sich für andere, gehen für Senior*innen einkaufen, helfen bei der Ernte mit, sind die Held*innen in den Lebensmittelläden und Krankenhäusern. Andere stehen um 7 Uhr morgens im Supermarkt und hamstern Toilettenpapier, Tomatendosen und Mehl. In der Politik sind die Krisenmanager*innen gefragt, hart durchgreifen heißt das bevorzugte Mittel. Unser Gesundheitssystem muss sich bewähren, die Wirtschaft setzt auf Kurzarbeit, viele Betriebe stehen still, Kleinunternehmer*innen und Selbstständige stehen vor dem Ruin. Es gibt Stimmen, die ernsthaft dazu raten, den Wert von einzelnen Menschenleben gegenüber der Erhaltung unseres Wohlstandes und der Wirtschaftsleistung abzuwägen. Die Auswirkungen einer globalen Marktwirtschaft mit ihren Abhängigkeiten von der Produktion anderer Länder werden plötzlich nicht mehr als gegeben vorausgesetzt, sondern kritisch diskutiert.

Die Ausnahmesituation stellt den*die Einzelne*n, die Gesellschaft und die Wirtschaft vor nicht geahnte Herausforderungen. Laute Rufe nach der finanziellen Stärkung der Wirtschaft werden gestellt und erhört. Doch sichert das Überleben unserer Wirtschaft und unseres Wohlstandes automatisch auch das Überleben unserer Gesellschaft? Was lernen wir aus der Krise? Kann die Gesellschaft gestärkt aus der Krise hervorgehen? Wie unsere Gesellschaft nach der Krise aussehen wird, können wir nicht wissen. Vielleicht machen wir ja nach dem Überwinden der Krise weiter wie bisher, vielleicht regt uns die Krise aber auch zum Nachdenken an und wir stellen Fragen zu unserer demokratischen Kultur, zum System unserer Wirtschaft und zur Art unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Idealer Ort für dieses gemeinsame Reflektieren und Lernen ist die Volkshochschule, denn Volkshochschule bietet parteipolitisch neutrale Begegnungs- und Diskussionsräume, sie ist ein Ort gelebter Vielfalt. Die Volkshochschule ist offen für alle, unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, Bildung, sozialer Lage, beruflicher Herkunft, Behinderung, Weltanschauung oder politischer Orientierung. Sie ist offen für Menschen mit unterschiedlichen und gegensätzlichen Auffassungen. Diskussionen und produktive Auseinandersetzungen über unsere demokratische Ordnung erfordern allerdings auch, dass unsere Gesellschaft (wieder) streiten lernt – nur so kann auf Dauer ein demokratisches Zusammenleben gewährleistet werden. Unsere Gesellschaft benötigt Menschen, die das Gegenüber respektieren und sich mit Argumenten sachlich auseinandersetzen können, sowie eine Streitkultur, die andere und anderes aushalten kann.

Streiten lernen bedeutet aber auch Perspektiven zulassen – denn wir müssen wieder Visionen und Alternativen zulassen, um über diese Visionen streiten und diskutieren zu können. Gibt es Alternativen für ein solidarisches Miteinander? Welche Form des Kapitalismus wollen wir? (Weiter-)Bildung kann und muss hier politische Diskussionsräume schaffen, in denen um Standpunkte und Visionen gerungen, gestritten und diskutiert werden kann. Dies ist aber nur möglich, wenn wir Alternativen zulassen und auch den Blick für diese Perspektiven öffnen. Den Rahmen für diese Diskussionen bilden die parteipolitische Neutralität der Volkshochschule und die Einhaltung des Grundgesetzes.

Grundlage für die Diskussionskultur der Volkshochschule ist eine ganzheitliche Bildung, die geistige, emotionale und soziale Kompetenzen ebenso umfasst wie ästhetische, musische, kulturelle und inter- bzw. transkulturelle Kompetenzen. Eine zukunftsfähige Allgemeinbildung vermittelt – aufbauend auf einer soliden Grundbildung – also etwa die Fähigkeit zur Orientierung in der Informationsflut, sowohl mit kognitiven Strategien als auch durch die Handhabung moderner Technik, sie vermittelt Kommunikationsfähigkeit, auch über geografische und kulturelle Grenzen hinweg, sie schafft das Bewusstsein für politische, geschichtliche und kulturelle Zusammenhänge, sie entwickelt die Fähigkeit zu kritischer Distanznahme und sie schärft die Urteilskraft. Eine derartige Allgemeinbildung gehört zu den Kernaufgaben der Weiterbildung an den Volkshochschulen.

Die Vermittlung von zukunftsfähiger Allgemeinbildung, die Befähigung zum Diskurs und das Einüben des Diskurses sind zugleich notwendige und zentrale Beiträge zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft, die sich immer weniger durch Homogenität und immer mehr durch Vielfalt und Diversität auszeichnet. Denn der Diskurs integriert, weil er Gewalt verhindert und dem Ausgleich der Interessen wie der Verständigung eine Chance gibt. Indem Volkshochschule den Raum für Diskussion und Auseinandersetzung bietet und den Menschen zum Diskurs befähigt, stärkt sie unmittelbar eine demokratische Kultur, die zu den Voraussetzungen für das Funktionieren unserer rechtsstaatlichen Demokratie gehört und die Grundlage für einen gelingenden gesellschaftlichen Zusammenhalt bildet.

Im Verbandsprojekt „Was hält unsere Gesellschaft zusammen?“ gehen die Volkshochschulen in Baden-Württemberg diesen Weg, indem sie Diskurse anbieten („Miteinander reden“), im gemeinsamen Tun Filterblasen aufbrechen („Miteinander handeln und gestalten“) und Vielfalt erlebbar machen („Miteinander Vielfalt stärken“). Ziel des Projekts ist aber nicht allein die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, sondern die Volkshochschulen erforschen auch, was die Teilnehmer*innen der Volkshochschulen über den gesellschaftlichen Zusammenhalt denken. Erste Antworten nennen häufig Kompetenzen wie Toleranz, Wertschätzung und Respekt, aber auch gemeinsame Werte. So vielfältig wie die Teilnehmer*innen sind auch die Rückmeldungen – dennoch spiegeln sie den Weg der Volkshochschule wider: Die Volkshochschule liefert eine wissenschaftlich fundierte Wissensgrundlage und regt die Menschen zum gemeinsamen Nachdenken und Reflektieren an, sie bereitet den Boden, auf dem gesellschaftlicher Zusammenhalt gedeiht.