Die Grenzen von Bildung

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor des Volkshochschulverbandes Baden-Württemberg bis Dezember 2020 

Lebenslanges Lernen ist in aller Munde. Dabei klingt die Lösung sehr nach Lebenslänglich: Lernen als Schicksal. – Aber war das je anders? Mussten wir uns nicht – ebenso wie Tiere und Pflanzen – immer schon an unsere Umwelt anpassen? Was ist in Zeiten lebenslangen oder besser: lebensbegleitenden Lernens anders? Warum wurde aus einer alltäglichen Selbstverständlichkeit ein zukunftsweisendes Programm? Und bedeutet dieses Programm auch grenzenloses Lernen? Darf das Lernen, darf Bildung nicht aufhören? Hat Bildung keine Grenzen?

I. Bildung als (Selbst-)Veränderung

Die längste Phase des lebensbegleitenden Lernens ist die Weiterbildung Erwachsener. Wie Bildung überhaupt antwortet Erwachsenenbildung auf die Frage, „was der Mensch sein bzw. werden soll.“1 In der ständischen Ordnung des Alten Reiches war diese Frage keine Frage, weil diese Ordnung jedem seinen Platz in der Welt fest zuwies: dem Sohn des Bauern als Bauer, dem Sohn des Handwerkers als Handwerker, dem Sohn des Kaufmanns als Kaufmann und dem Prinzen als Fürst. Erziehung und Bildung konnten an diesem Platz in der Welt grundsätzlich nichts ändern. Sie konnten aus dem Sohn des Handwerkers keinen Adeligen machen. Allenfalls einen perfekteren Handwerker. Also: Kein Aufstieg durch Bildung!

Beginnend mit der Reformation und vollendet durch Aufklärung und Französische Revolution2 wird diese alte Ordnung, in der die Menschen in unterschiedlichen Schichten „aufgehoben“ waren und die gesellschaftlichen Unterschiede ihre Begründungin der Natur und damit in Gott fanden, abgelöst. Sie wird abgelöst durch eine Gesellschaft, für die gilt: „Die Menschen (Männer) werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im Allgemeinen Nutzen begründet sein.“ So steht es in Art. 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung vom 26. August 1789.

Beschreibend verstanden kündet dieser Art. 1 damit von der Umstellung der Gesellschaft von primär stratifikatorischer, schichtbezogener auf primär funktionale, aufgabenbezogene Differenzierung.3 An die Stelle des Glaubens an die göttliche Ordnung ist die aufgeklärte menschliche Vernunft getreten und an die Stelle Gottes das Gemeinwohl im Sinne der Nützlichkeit.

Die Umstellung der primären gesellschaftlichen Differenzierungsform auf Aufgaben, also auf die spezialisierte Bearbeitung eines gesellschaftlichen Bezugsproblems wie etwa die Zukunftssicherung im Hinblick auf knappe Güter durch die Wirtschaft oder das Erzeugen von Sicherheit für nichtselbstverständliche Verhaltenserwartungen durch das Recht oder das Herstellen kollektiv bindender Entscheidungen durch die Politik, reagierte auf gestiegene gesellschaftliche Komplexität und steigerte ihrerseits die gesellschaftlichen Möglichkeiten.

Nachdem die alten Gewissheiten ausgetrieben waren, war jetzt alles auch anders möglich. Auch was der Mensch sein bzw. werden soll, mithin die Antwort auf die Bildungsfrage, ist nicht mehr – als Natur – vorgegeben, sondern eine Frage der Entscheidung. In genau diesem Sinne wird durch die grundlegende gesellschaftliche Umstellung zum Ende des 18. Jahrhunderts Erwachsenenbildung, wie Bildung überhaupt, merst denkbar, möglich und notwendig.

Die erste Antwort auf die Bildungsfrage, die auf der Höhe der Zeit war, also dem neuen Selbstbewusstsein des Subjekts entsprach, lieferte der Neuhumanismus, insbesondere Wilhelm von Humboldt mit seiner Unterscheidung von Mensch und Welt und Bildung als veredelndes Streben des Menschen, „so viel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.“4 Bildung als Aneignung von Welt5, als „Vervollkommnung des Menschen durch die Anverwandlung von Welt“6.

Erfolgreich war und ist der Humboldt‘sche Bildungsbegriff wegen seiner Unbestimmtheit. Er befreit sowohl den Menschen als auch die Welt, den einen aus seiner natürlichen, die andere von ihrer inhaltlichen Festgelegtheit. Dadurch gelingt es ihm, den Menschen und die Welt auf eine unbestimmte Zukunft einzustellen. Diese Einstellung wurde notwendig durch die erfolgte Umstellung von der gottgewollten natürlichen, vorgegebenen Ordnung auf eine durch vernünftige menschliche Entscheidung erst zu schaffende, also aufgegebene Ordnung. Denn die Umstellung der Ordnung erforderte zugleich die Umstellung der orientierenden Zeitdimension: von der bekannten Vergangenheit auf eine unbekannte Zukunft. Gut ist nicht mehr, was immer schon so war, also alt ist, gut ist vielmehr das Neue, das noch Unbekannte.

Die inhaltlich bedingte Veränderung der orientierenden Zeitdimension bedingt ihrerseits eine sachliche Veränderung. Der Bildungsbegriff muss sich von spezifischen Inhalten und schon gar von deren Kanonisierung lösen. Denn die Unbekanntheit, ja Ungewissheit der Zukunft schließt es aus, sich auf ihre – ja eben unbekannten – Anforderungen konkret vorzubereiten. Bildung muss sich also zwar mit konkreten Inhalten beschäftigen, ihr eigentliches Ziel ist aber nicht das Lernen von Inhalten, sondern das Lernen des Lernens. Ihr Ziel ist, etwas abstrakter gefasst, die an konkreten Inhalten exemplarisch erworbene Bereitschaft und Fähigkeit zur (Selbst-)Veränderung.

Auf dieser Folie ist die eingangs aufgeworfene Frage, weshalb aus einer alltäglichen Selbstverständlichkeit ein zukunftsweisendes Programm wurde, leicht zu beantworten. Wegen der immer eindrucksvoller wahrgenommenen Ungewissheit der Zukunft. Deshalb ist das lebensbegleitende Lernen auch keine Erfindung der Europäischen Union, sondern eine Folge der Europäischen Aufklärung. Die EU hat es – vor allem aus ökonomischen Gründen – als „Lebenslanges Lernen“ lediglich zunehmend ins politische Bewusstsein gehoben, und versteht darunter immer noch vor allem die Notwendigkeit der Anpassungsqualifizierung, also die Notwendigkeit, dass sich die Menschen an die Veränderungen der Wirtschafts- und Arbeitswelt anpassen müssen.

II. Bildung als Allheilmittel

Das Bezugsproblem von Bildung ist also die Ungewissheit der Zukunft, der durch Änderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit begegnet werden soll. Deshalb kann es nicht überraschen, dass es kaum ein gesellschaftliches Problem gibt, dessen Lösung nicht umgehend – zumindest auch – vom Bildungssystem erwartet wird. Von der Vermeidung von Beschäftigungslosigkeit über die sinnvolle Freizeitgestaltung und die Gestaltung des Lebens nach dem Ende der Erwerbsarbeit bis hin zur Behebung des Pflegenotstands und zur Integration unserer Gesellschaft, einschließlich der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts soll es sich durchweg um Bildungsaufgaben handeln.

Mittlerweile geht die Hoffnung, das gesellschaftliche Heil in der ständig gesteigerten Änderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit der Menschen zu finden, so weit, dass die Grenzen dieser Änderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit, also die Grenzen von Bildung, nahezu tabuisiert sind. Dabei wird eine lebenslange gleichmäßige menschliche Veränderbarkeit einfach unterstellt.

Dass Bildung grenzenlos möglich sei, entspricht aber nicht nur derErwartung der Umwelt des Bildungssystems. Das Bildungssystem selbst glaubt auch daran. Das zeigt sich etwa darin, wie es die Einsicht zu vermeiden sucht, dass nicht alle Menschen für Bildung zugänglich sind. Es kennt allenfalls bildungsferne Gruppen und Milieus, die noch nicht erreicht werden. Dass man knappe Lebenszeit auch anders, denn zur Bildung nutzen kann, droht ganz aus dem Blick zu geraten.

Diese Erwartungen laufen auf eine (Selbst-)Überforderung des Bildungssystems hinaus. Schon führt die Bereitschaft, die Zuweisung aller möglichen Aufgaben insbesondere durch Politik und Wirtschaft zu akzeptieren, zu der Beschreibung etwa der Weiterbildung als „ideologischpsychologischer Reparaturbetrieb“ bzw. ihrer Degeneration „zu einer Strategie reaktiver Politik, der es auf Krisenverarbeitung statt auf Krisenvermeidung ankommt“.7

In Richtung Überforderung weist auch die systeminterne Reaktion, den Bildungsbegriff unsystematisch in jederzeit beliebig vermehrbare Kompetenzen zu zerlegen, die zu entwickeln Schüler*innen, Berufsschüler*innen und Studierende sowie alle Anderen lebenslang aufgefordert sind. Nahezu jeder Aufgabe wird früher oder später eine eigene konkrete Kompetenz gewidmet. Längst geht es nicht mehr nur um Selbst-, Sach- und Sozialkompetenzen, sondern auch um Moderations- und Präsentationskompetenz, Informations- und Medienkompetenz, Verhandlungs-, Konfliktlösungs- und Transformationskompetenz bis zur Fahrscheinautomatbedienungskompetenz.8

Die (Selbst-)Überforderung des Bildungssystems drängt die Tatsache in den Hintergrund, dass jede Annahme einer Aufgabe als Bildungsaufgabe letztlich die Individualisierung eines gesellschaftlichen Problems bedeutet. Denn Änderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit müssen von jeder/m Einzelnen durch Anstrengung hergestellt werden. Je tiefer eine Veränderung in die Persönlichkeit hineinreichen soll, desto aufwendiger und schwieriger ist sie. Und (deshalb) auch desto unwahrscheinlicher.

Die Frage nach den Grenzen von Bildung hat demnach zwei Aspekte, einen systemischen und einen individuellen. Der systemische Aspekt fragt nach den Grenzen der gesellschaftlichen Leistung des Bildungssystems, die in Veränderungsfähigkeit besteht, also nach den Grenzen der Individualisierbarkeit gesellschaftlicher Probleme. Damit hängt er ab von dem individuellen Aspekt, der nach den Grenzen der (Selbst-)Veränderungsbereitschaft und (Selbst-)Veränderungsfähigkeit der Menschen fragt.

Die Grenzen der Individualisierbarkeit gesellschaftlicher Probleme ergeben sich nicht zuletzt aus unserer Verfassung, dem Grundgesetz (GG). Die im Rahmen der gültigen Rechtsnormen in Art. 2 Absatz 1 GG garantierte freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährleistet auch ein Recht auf Nichtwissen und Nichtlernen, also salopp gesagt ein „Recht auf Dummheit“. Und auch das Sozialstaatsprinzip der Artt. 20 Absatz 1 und 28 Absatz 1 GG steht einer überfordernden Belastung des Individuums gewiss entgegen.

Die Frage nach den individuellen Grenzen der (Selbst-)Veränderungsfähigkeit soll hier nicht als Frage der pädagogischen Psychologie verstanden werden, sondern als Frage nach den sozialen Grenzen der menschlichen Veränderungsfähigkeit.

III. Erkennbarkeit

Das sich verändernde bzw. das veränderte Subjekt muss trotz der Veränderung mit sich selbst identisch erscheinen, sonst wäre es ja ein/e andere/r. Die soziale Grenze der Veränderung ist also die Identität der Person im Sinne der (Wieder-) Erkennbarkeit. Nichterkennbarkeit irritiert. Andererseits ist vollständige Identität nur durch Nichtveränderung zu gewährleisten. Grundsätzlich besteht also grob gesagt immer die Wahl: man kann lernen oder versuchen, Recht zu behalten.

Diese Wahl prägt zwei unterschiedliche Verhaltensstile. Man kann seiner Umwelt primär kognitiv, also auf lernen ausgerichtet begegnen oder eher normativ ausgerichtet, also an der auch kontrafaktischen Aufrechterhaltung der eigenen Erwartungen orientiert. Das Mischungsverhältnis beider Stile ist Ausdruck der Individualität, gehört also zur Identität/Erkennbarkeit der Person. Es hängt aber immer auch vom sozialen Kontext ab.

Da Veränderung individuell riskant ist und in der (sozialen) Kommunikation irritierend wirkt, bedarf sie der Rechtfertigung. Unter neuzeitlichen Bedingungen kann die Rechtfertigung – wie unter I. dargestellt – prinzipiell nur noch darin bestehen, dass die Veränderung von größerem künftigem Nutzen ist als die Nichtveränderung. Die Veränderung erscheint so nicht als Selbstwiderspruch oder Verfall, sondern als Verbesserung, als Fortschritt oder bildungsbezogener: als „gewachsene, höhere“ Erkenntnis, als Aufstieg.

Genau diese Differenz in der Bewertung der Veränderung kennzeichnet auch die Diskussion über die Veränderung der bundesrepublikanischen Gesellschaft durch Flüchtende und Zuwandernde seit 2015: Vielfalt als Verfall oder als Fortschritt.

Und die Notwendigkeit der Rechtfertigung von Veränderung zeigt der Ausnahmefall der Veränderung bei Kindern und Jugendlichen. Sie sind von der Rechtfertigungsnotwendigkeit dadurch weitgehend entlastet, dass der Fortschritt zum/r Erwachsenen von ihnen generalisiert erwartet wird.

Entscheidend für das Gelingen der Rechtfertigung der Veränderung ist demnach der soziale Kontext. Er kann – bildungsbejahend – primär auf lernen ausgerichtet sein, dann ist nichtlernen das Problem. Er kann aber eben auch primär auf Recht behalten ausgerichtet sein, dann führt lernen zu Schwierigkeiten. Menschen, die durch Bildung sozial aufgestiegen sind, berichten von diesen Schwierigkeiten. Eine „Bildungsrepublik“, das heißt eine bildungsbejahende gesellschaftliche Atmosphäre, muss mithin entsprechende generalisierte Erwartungen durchsetzen. Sie kann also nicht einfach verordnet, sondern muss aufwendig geschaffen werden.

IV. Fazit: Grenzen und Zukunft

1. Das Bezugsproblem von Bildung ist die Ungewissheit der Zukunft, der durch Änderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit begegnet werden soll. Die Frage nach den Grenzen von Bildung hat zwei Aspekte. Der systemische Aspekt fragt nach den Grenzen der gesellschaftlichen Leistung des Bildungssystems, die in Veränderungsfähigkeit besteht, also nach den Grenzen der Individualisierbarkeit gesellschaftlicher Probleme. Damit hängt er ab von dem individuellen Aspekt, der nach den Grenzen der (Selbst-)Veränderungsbereitschaft und (Selbst-)Veränderungsfähigkeit der Menschen fragt.

Die Grenzen der Individualisierbarkeit gesellschaftlicher Probleme ergeben sich nicht zuletzt aus unserer Verfassung, dem Grundgesetz (GG), insbesondere aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und aus dem Sozialstaatsprinzip.Die menschliche Veränderungsfähigkeit findet ihre soziale Grenze in der Möglichkeit, die (Selbst-)Veränderung nicht als Selbstwiderspruch oder Verfall erscheinen zu lassen, sondern sie als Verbesserung bzw. Fortschritt zu rechtfertigen. Das Gelingen der Rechtfertigung hängt vom sozialen Kontext ab, der beileibe nicht immer und überall bildungsbejahend ist.

2. Die Ungewissheit der Zukunft ist die Folge ihrer Entscheidungsabhängigkeit. Was durch Entscheidung bestimmt wurde, kann auch durch Entscheidung geändert werden. Entscheidend ist der künftige Nutzen, der Nutzen in ungewisser Zukunft. Deshalb schlägt Niklas Luhmann vor, der Ungewissheit nicht nur zu „begegnen“, sondern sie positiv zu nutzen: „(...) die wichtigere Einsicht ist, dass das Unbekanntsein der Zukunft eine Ressource ist, nämlich die Bedingung der Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen. Die Konsequenz wäre, dass das Lernen von Wissen weitgehend ersetzt werden müsste durch das Lernen des Entscheidens, das heißt: des Ausnutzens von Nichtwissen.“9

Bildung wäre demnach nicht als Veränderungsfähigkeit zu begreifen, sondern als Entscheidungsfähigkeit. Deren Grenzen dürften andere sein und wären noch zu bestimmen.

 

(1) Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, hrsgg. von Dieter Lenzen, 2002, S.186.
(2) Hermann Huba, Eine Theorie der Volkshochschule, in: Volkshochschulverband Baden-Württemberg (Hrsg.), Über 100 Jahre Volkshochschulen in Baden-Württemberg, 2019, S.14 (15 ff.).
(3) Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 2. Teilband S.743 ff.
(4) Wilhelm von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, in: Gerhard Lauer (Hrsg.), Wilhelm von Humboldt – Schriften zur Bildung, 2017, S.6.
(5) Luhmann (FN 1), S.188.
(6) Gerd Roellecke, Weiterbildung zwischen Gemeinwohl und Karriere, in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft 2000, S.1100 (1103).
(7) Rolf Arnold, Erwachsenenbildung, 1996, S.40 f.
(8) Man ist versucht hinzuzufügen: einschließlich der Inkompetenzkompensationskompetenz (Odo Marquard).
(9) Luhmann (FN 1), S.198.