Zur Bedeutung der Allgemeinen Weiterbildung

Autor: Dr. Hermann Huba, Verbandsdirektor des Volkshochschulverbandes Baden-Württemberg bis Dezember 2020 

I. Die Fragen

Politische, historische, familiebezogene, psychologische, philosophische, naturwissenschaftliche, ökologische, kulturelle, gesundheitliche und sprachliche Weiterbildung werden zusammen mit der Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener sowie mit dem Nachholen von Schulabschlüssen als „Allgemeine Weiterbildung“ zusammengefasst. Die „Berufliche Weiterbildung“ gehört nicht dazu. Sie ist vielmehr der Gegenbegriff.

Von diesem Gegenbegriff aus, also als nicht-berufliche Weiterbildung definiert zu werden, ist geradezu das Schicksal der Allgemeinen Weiterbildung in nahezu allen (bildungs-)politischen Debatten auf europäischer, nationaler und teilweise auch auf der Ebene der Bundesländer. Und so definiert, wird sie dann postwendend ignoriert.

Die Politik tut damit so, als lägen die Herausforderungen der Zukunft ausschließlich im wirtschaftlichen und beruflichen Bereich, weswegen lebenslanges, besser: lebensbegleitendes Lernen, nur in diesem Zusammenhang von Bedeutung sei. Und darüber hinaus tut sie so, als stünde die Unteilbarkeit der Person einer säuberlichen Trennung ihrer Lebensbereiche nicht zwingend entgegen, als sei also Allgemeine Weiterbildung nicht mehr oder weniger direkt immer auch von beruflichem Nutzen. Und nicht zuletzt tut sie so, als sei Berufliche Weiterbildung grundsätzlich gemeinwohlorientiert, während Allgemeine Weiterbildung grundsätzlich im Privatinteresse liege.

Aber ist es mit beruflicher Anpassungsqualifizierung tatsächlich getan? Ist unsere Gesellschaft wirklich schon dadurch zukunftsfähig, dass wir uns um die Stärkung der beruflichen Kompetenzen kümmern? Sind Fragen demokratischer Meinungsbildung, Fragen des Klimawandels, überhaupt ökologische Fragen und ist kulturelle Teilhabe in unserem demokratischen Gemeinwesen, sind Möglichkeiten der individuellen gesundheitlichen Prävention, ist Mehrsprachigkeit, ist der digitale Wandel unserer Kulturtechniken, sind alle diese Themen der bildungspolitischen Aufmerksamkeit wirklich nicht wert? Und was ist mit dem wachsenden Anteil derjenigen, die nicht mehr im Berufs- und Erwerbsleben stehen? Können wir sie von der Zukunft einfach abhängen?

Darüber hinaus: Reicht es tatsächlich aus, einzelne vermutete künftige wirtschaftliche und berufliche Herausforderungen zu antizipieren und auf sie mit der Anhäufung von Wissen und durch die Ausbildung einzelner entsprechender Kompetenzen zu reagieren? Oder geht es vielmehr darum, insgesamt mit der Ungewissheit der Zukunft, also gerade mit Nichtwissen zurecht zu kommen?

II. Weiterbildung = Berufliche Weiterbildung?

Es hat den Anschein, Stückwerk sei ausreichend. Nehmen wir die mit viel medialem Getöse Mitte 2019 von der Bundesregierung verkündete sogenannte Nationale Weiterbildungsstrategie (NWS: https://www.bmbf.de/bmbf/de/bildung/weiterbildung/nationale-weiterbildungsstrategie/nationale-weiterbildungsstrategie_node.html).

Indem man (Bund, Länder, Wirtschaft, Gewerkschaften und die Bundesagentur für Arbeit) seine bestehenden Anstrengungen für Weiterbildung und Qualifizierung bündelt und weiterentwickelt (so NWS, S. 2, l. Sp.), verfügt man schon vom Ansatz her noch nicht über eine Strategie, weil das Bestehende weder widerspruchsfrei, noch gar systematisch langfristig auf das Erreichen des als richtig erkannten Ziels ausgerichtet sein muss.

Das nicht leicht zu erkennende Ziel der NWS ist denn auch die Vorausschau des künftigen Kompetenzbedarfs: „Betriebe und Beschäftigte müssen sich schnell auf diese Veränderungen einstellen können und brauchen daher frühzeitig Orientierung über mögliche künftige Entwicklungen. Die NWS setzt es sich daher zum Ziel, die Instrumente für eine strategische Vorausschau weiterzuentwickeln und die Informationswege insbesondere in Richtung KMU zu verbessern.“ (S. 21, l. Sp.) – Man hofft also tapfer auf die doch noch rechtzeitige konkrete Erkennbarkeit der eigentlich unbekannten, ungewissen Zukunft, als hätte diese nicht auch die Wirtschaft bereits häufig genug überrascht.

Die Nationale Weiterbildungsstrategie ist aber nicht nur keine nationale Strategie, ihr Gegenstand ist auch nicht die Weiterbildung, sondern – ohne Begründung (s. S. 5, l. Sp.) – lediglich die Berufliche Weiterbildung. Ihr Anspruch: „Wir brauchen daher eine neue Weiterbildungskultur in Deutschland, die Weiterbildung als selbstverständlichen Teil des Lebens versteht“ (S. 2, l. Sp.), bezieht sich nicht auf die Weiterbildung insgesamt, sondern – aus ihrer Sicht offenbar selbstverständlich – nur auf deren beruflichen Teil.

Dabei macht es der NWS schon Schwierigkeiten, den nachholenden Erwerb von Grundkompetenzen, worunter sie selbstredend lediglich lesen, schreiben und rechnen versteht, noch geradeso zum Bereich der beruflichen Weiterbildung zu zählen, freilich nicht ohne hinzuzufügen: „in einem weiteren Sinne“ (S. 5, l. Sp.).

Die Engführung des Begriffs der Weiterbildung in der NWS lohnte allerdings die Aufregung nicht, erfolgte sie dort nicht beispielhaft für fast alle (bildungs-)politischen Diskussionen seit der „Erfindung“ des lebenslangen Lernens durch die Europäische Union und – vor allem – führte sie nicht zu inhaltlich-sachlich falschen Ergebnissen.

Falsch ist es:

  • Das Bildungssystem, einschließlich der Weiterbildung lediglich als Vollzugsorgan der Wirtschaft zu begreifen und nicht als ein eigenen Regeln folgendes System zu respektieren, das auch anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Politik, Kultur, Wissenschaft, Gesundheit, Familie usw. Leistungen erbringt.
  • Die Unteilbarkeit der Person zu vernachlässigen.
  • Die Unterscheidung zwischen Kompetenzen und Wissen einerseits und Bildung andererseits zu übergehen.

Diese drei Feststellungen bedürfen der Begründung.

III. Kompetenzen, Wissen und Bildung

Das Leitmotiv der alten, schon gar der Universität vor dem Bologna-Prozess war: Wer auf akademische Berufe vorbereiten will, darf nicht auf akademische Berufe vorbereiten. Die paradoxe Formulierung transportiert eine für Bildung grundlegende Erkenntnis: Die Vorbereitung auf bekannte, konkrete Anforderungen befähigt nicht hinreichend zur Bearbeitung oder gar Lösung unbekannter Probleme.

Danach ist der Versuch, Kompetenzbedarfe der Zukunft vorauszusehen und die Berufliche Weiterbildung in der Gegenwart auf diese ermittelten Kompetenzbedarfe auszurichten, selbst wenn er trotz der prinzipiellen Ungewissheit der Zukunft gelingen könnte, allenfalls die zweitbeste Lösung.

Eine Kompetenz ist die Fähigkeit, in einer konkreten, also definierten Situation auf eine konkrete, also definierte Herausforderung angemessen zu reagieren. Der angemessene Umgang mit einer (noch) nicht bestimmten Herausforderung in einer noch unbestimmten Situation erfordert mehr als das, nämlich das Vermögen, Nichtwissen, ja der Ungewissheit der Zukunft begegnen zu können.

Die Ungewissheit der Zukunft ist das Bezugsproblem des Bildungssystems.

Die längste Phase des lebensbegleitenden Lernens ist die Weiterbildung Erwachsener. Wie Bildung überhaupt antwortet auch Weiterbildung auf die Frage, „was der Mensch sein bzw. werden soll.“ (1) In der ständischen Ordnung des Alten Reiches war diese Frage keine Frage. Sie stellte sich erst infolge der grundlegenden gesellschaftlichen Umstellung zum Ende des 18. Jahrhunderts. (2)

Die erste Antwort auf die Bildungsfrage, die dem neuen Selbstbewusstsein des Subjekts entsprach, lieferte der Neuhumanismus, insbesondere Wilhelm von Humboldt mit seiner Unterscheidung von Mensch und Welt und Bildung als veredelndes Streben des Menschen, „so viel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.“ (3) Bildung als Aneignung von Welt (4), als „Vervollkommnung des Menschen durch die Anverwandlung von Welt“ (5).

Erfolgreich war und ist der Humboldt‘sche Bildungsbegriff wegen seiner Unbestimmtheit. Er befreit sowohl den Menschen als auch die Welt, den einen aus seiner biographischen, die andere von ihrer inhaltlichen Festgelegtheit. Dadurch gelingt es ihm, den Menschen und die Welt auf eine unbestimmte Zukunft einzustellen. Diese Einstellung wurde notwendig durch die erfolgte Umstellung von der gottgewollten natürlichen, vorgegebenen Ordnung auf eine durch vernünftige menschliche Entscheidung erst zu schaffende, also aufgegebene Ordnung. Denn die Umstellung der Ordnung erforderte zugleich die Umstellung der orientierenden Zeitdimension: von der bekannten Vergangenheit auf eine unbekannte Zukunft. Gut ist nicht mehr, was immer schon so war, also alt ist, gut ist vielmehr das Neue, das noch Unbekannte.

Die inhaltlich bedingte Veränderung der orientierenden Zeitdimension bedingt ihrerseits eine sachliche Veränderung. Der Bildungsbegriff muss sich von spezifischen Inhalten und schon gar von deren Kanonisierung lösen. Denn die Unbekanntheit, ja Ungewissheit der Zukunft schließt es aus, sich auf ihre – ja eben unbekannten – Anforderungen konkret vorzubereiten. Bildung muss sich also zwar mit konkreten Inhalten beschäftigen, ihr eigentliches Ziel ist aber nicht das Lernen von Inhalten, sondern das Lernen des Lernens. Ihr Ziel ist, etwas abstrakter gefasst, die an konkreten Inhalten exemplarisch erworbene Bereitschaft und Fähigkeit zur (Selbst-)Veränderung.

Das lebensbegleitende Lernen ist also keine Erfindung der Europäischen Union, sondern eine Folge der Europäischen Aufklärung. Die EU hat es – vor allem aus ökonomischen Gründen – als Lebenslanges Lernen lediglich zunehmend ins politische Bewusstsein gehoben, und versteht darunter immer noch vor allem die Notwendigkeit der Anpassungsqualifizierung, also die Notwendigkeit, dass sich die Menschen an die Veränderungen der Wirtschafts- und Arbeitswelt anpassen müssen.

Demgegenüber ist Bildung das Vermögen, der Ungewissheit der Zukunft durch (Selbst-)Änderungsbereitschaft und (Selbst-)Veränderungsfähigkeit begegnen zu können. Dafür ergänzt sie Handlungskompetenz durch Beurteilungs- und Entscheidungsvermögen sowie Urteilskraft.

Berufliche (Weiter-)Bildung, die den Namen „Bildung“ verdient, darf sich also nicht auf die – angeblich strategische – Vorausschau des künftigen Kompetenzbedarfs beschränken. Solche unmittelbare Anwendungsbezogenheit lässt sie ihren Zweck verfehlen. Sie muss es den Menschen vielmehr ermöglichen, darüber hinaus das Lernen zu lernen, Beurteilungs-, und d.h. Bewertungssicherheit zu entwickeln und künftigen Nutzen, Nutzen in einer unbekannten Zukunft einschätzen zu können. Mit anderen Worten: Ihr Ziel muss (Selbst-)Änderungsbereitschaft und (Selbst-)Veränderungsfähigkeit sein.

Die moderne Antwort auf die Bildungsfrage, „was der Mensch sein bzw. werden soll“ lautet demnach: erforderlichenfalls ein anderer.

Die Trennung von Beruflicher und Allgemeiner Weiterbildung ist demnach nicht nur nicht sinnvoll, sondern sogar schädlich. Auf die Frage, ob diese Trennung möglich ist – ist eine Fortbildung in Rhetorik, in Entspannungstechnik oder in interkultureller Begegnung nicht immer und notwendig auch von beruflichem Nutzen? – kommt es also gar nicht an. Denn alle anderen Lebensbereiche des Menschen, wie Familie, soziale Kontakte, politisches Engagement, gesellschaftliche und kulturelle Kommunikation, Freizeit usw. bilden seine Änderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit mindestens ebenso sehr wie es der Beruf und die Erwerbsarbeit vermögen. Ja, sie inspirieren und flankieren die berufliche Anpassungsfähigkeit.

Deshalb wäre es zu seinem eigenen Nutzen, verzichtete das Wirtschaftssystem darauf, dem Bildungssystem hochgradig anwendungsbezogene und „verzweckte“ Lernziele und Lerninhalte möglichst präzise vorzuschreiben. Die so verursachte beschränkte berufliche Einsatzfähigkeit der Menschen ist eine ziemlich unökonomische Lösung des Problems der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit der Zukunft.

Und selbstverständlich wäre dem Bildungssystem, einschließlich der Universitäten mehr Selbstbewusstsein im Zurückweisen der Forderungen der Wirtschaft zu wünschen. Sollten die Lehren aus dem Bologna-Prozess mit seiner Fixierung auf Beschäftigungsfähigkeit nicht gerade dazu ermutigen?

IV. Gemeinwohlorientierung

Dieser Hintergrund verbietet freilich auch eine Unterscheidung zwischen Allgemeiner und Beruflicher Weiterbildung hinsichtlich ihrer Gemeinwohlrelevanz. Bewertet man die Berufliche Weiterbildung generell als gemeinwohlbezogen, kann für die Allgemeine Weiterbildung nichts anderes gelten. Eine unterschiedliche – etwa steuerrechtliche – Bewertung in Bezug auf den allgemeinen Nutzen ist sachlich nicht zu rechtfertigen.

Was soll die Teilnahme an gesundheitlicher Prävention dienenden Bewegungs-, Entspannungs- und Ernährungsweiterbildungen weniger gemeinwohlnützlich machen, als eine Schulung in modernster Schweißtechnik, gerade auch angesichts explodierender Krankheitskosten?

Was soll die Teilnahme an einer Weiterbildung zur demokratischen Meinungsbildung weniger gemeinwohlnützlich machen, als ein Update in chemischen Analyseverfahren, gerade auch angesichts von fake news, alternativen Fakten und der digitalen Manipulation von Wahlverfahren?

Was soll der Besuch einer Fortbildung in interkultureller Kommunikation oder das Erlernen einer europäischen Fremdsprache weniger gemeinwohlnützlich machen, als den Erwerb eines Bagger-Führerscheins?

Diese Beispiele enthalten kein Plädoyer dafür, jede denkbare allgemeine Weiterbildung, ganz gleich zu welchem Thema als gemeinwohlbezogen zu qualifizieren und deshalb beispielsweise steuerlich bevorzugt zu behandeln. Die Beispiele und das bisher Gesagte erheben aber durchaus die Forderung, dass eine (widerlegliche) Vermutung für die Gemeinwohlbezogenheit der Angebote Allgemeiner Weiterbildung spricht – und mehr und anderes sollte für die Berufliche Weiterbildung auch nicht sprechen.

V. Umsatzsteuerrecht

Diese Perspektive hat erhebliche praktische Folgen. Sie lässt beispielsweise die dem geltenden Umsatzsteuerrecht zugrunde liegende Unterscheidung zwischen umsatzsteuerbefreiten (allgemeinen) Bildungsleistungen und umsatzsteuerpflichtigen Leistungen zur reinen Freizeitgestaltung zumindest schief erscheinen. Denn diese Unterscheidung reproduziert die Unterscheidung von Beruflicher und Allgemeiner Weiterbildung in der Zeitdimension: hier erwerbsarbeitsorientierte Zeit, dort Freizeit. Demgegenüber ist in Zeiten lebensbegleitenden Lernens Weiterbildung notwendig und selbstverständlich eine Form der Gestaltung erwerbsarbeitsfreier Zeit, also eine Form der Freizeitgestaltung.

Aber eben eine Form der in die Zukunft investierender Freizeitgestaltung, nicht eine Form der der Unterhaltung dienenden, also der konsumtiven Freizeitgestaltung. Ob ein Veranstaltungsinhalt das eine oder das andere ist, ergibt sich dabei nicht aus seinem „Wesen“. Veranstaltungsinhalte sind nicht eo ipso bildungs- oder unterhaltungsorientiert. Auch der Rekurs auf die Teilnehmenden hilft nicht weiter, weil man ihre Motive nicht kennt und kaum verbindlich erheben kann. Die Orientierung einer Veranstaltung und ihres Inhalts hängt vielmehr von ihrer Widmung, ihrem Zweck ab.

Das gilt auch etwa für einen scheinbar so eindeutigen Inhalt wie „Flirten“. Geht es um die anwendungsorientierte Vermittlung von Flirttechniken, dient die Veranstaltung der Unterhaltung, geht es um die Beobachtung der Veränderung von Flirttechniken im Laufe der Zeit oder um den Vergleich mit anderen Kulturen, verfolgt die Veranstaltung ein Bildungsziel.

VI. Gemeinwohlorientierte Allgemeinbildung

Eine Vermutung für ihre Gemeinwohlbezogenheit können insbesondere diejenigen Inhalte Allgemeiner Weiterbildung für sich in Anspruch nehmen, die der Allgemeinbildung dienen. Allgemeinbildung in diesem Sinne umfasst alle Inhalte und Vermögen, über die (möglichst) alle Mitglieder der Gesellschaft verfügen können sollten, weil sie nicht nur ihre persönliche Entfaltung, sondern auch ihre aktive politische und kulturelle Teilhabe ermöglichen.

Das Grundgesetz konstituiert eine sehr freiheitliche, (werte-)pluralistische, also eine ziemlich anspruchsvolle und voraussetzungsreiche Gesellschaft. Ihr Inklusionsprinzip ist Differenzierung. Differenzierung klingt aber eher nach Desintegration. Und Einheit durch Vielfalt klingt sogar paradox. Diese Paradoxie indiziert die Kompliziertheit unseres Gesellschaftsmodells. Und genau damit belegt sie die Notwendigkeit von Allgemeinbildung: Voraussetzungsreiche und anspruchsvolle Gesellschaften sind auf Allgemeine (Weiter-)Bildung aller existentiell angewiesen. Auch weil Mitwirkung in ihnen ein Grundverständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge und entsprechende Fähigkeiten voraussetzt. Beides ist ohne Allgemeinbildung nicht denkbar.

VII. Fazit

1. Weiterbildung erschöpft sich nicht in Beruflicher Weiterbildung und schon gar nicht in Anpassungsqualifizierung. Die Allgemeine Weiterbildung ist von mindestens gleicher Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Deshalb unterscheiden sich Allgemeine und Berufliche Weiterbildung auch nicht hinsichtlich ihrer Gemeinwohlorientierung. Die begründungslose vollständige Vernachlässigung der Allgemeinen Weiterbildung in der sogenannten Nationalen Weiterbildungsstrategie (NWS) 2019 ist nicht zu rechtfertigen.

2. Angesichts der Ungewissheit der Zukunft kommt berufliche Anpassungsqualifizierung notwendig immer zu spät. Demgegenüber ist Bildung das Vermögen, der Ungewissheit der Zukunft durch (Selbst-)Änderungsbereitschaft und (Selbst-)Veränderungsfähigkeit begegnen zu können. Deshalb verbietet sich eine Trennung von Allgemeiner und Beruflicher Weiter-bildung. Handlungskompetenz bedarf stets der Ergänzung durch Beurteilungs- und Entscheidungsvermögen sowie Urteilskraft.

3. Eine Vermutung für ihre Gemeinwohlbezogenheit können insbesondere diejenigen Inhalte Allgemeiner Weiterbildung für sich in Anspruch nehmen, die der Allgemeinbildung dienen. Die gemeinwohlorientierte Allgemeinbildung umfasst alle Inhalte und Vermögen, über die (möglichst) alle Mitglieder der Gesellschaft verfügen können sollten, weil sie nicht nur ihre persönliche Entfaltung, sondern auch ihre aktive politische und kulturelle Teilhabe ermöglichen.

 

(1) Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, hrsgg. von Dieter Lenzen, 2002, S.186.

(2) Näher Hermann Huba, Die vhs als Kind der Aufklärung – Eine Theorie der Volkshochschule, in: Volkshochschulverband Baden-Württemberg (Hrsg.), Über 100 Jahre Volkshochschulen in Baden-Württemberg, 2019, S.14 (15 ff.).

(3) Wilhelm von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, in: Gerhard Lauer (Hrsg.), Wilhelm von Humboldt - Schriften zur Bildung, 2017, S.6.

(4) Luhmann (FN 1), S.188.

(5) Gerd Roellecke, Weiterbildung zwischen Gemeinwohl und Karriere, in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft 2000, S.1100 (1103).